Berlin. Der Fall des Attentäters vom Solinger Stadtfest zeigt: Abgelehnte Asylbewerber abzuschieben, fällt deutschen Behörden enorm schwer.
Es ist ein Satz, der an Olaf Scholz haftet: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Gesprochen hat der Bundeskanzler diese Worte im vergangenen Oktober in einem „Spiegel“-Interview. Der Kanzler sieht bereits erste Erfolge, doch nach dem Anschlag von Solingen steht die Bundesregierung massiv unter Druck. Denn im Alltag scheitern viele Rückführungen – auch die des mutmaßlichen Attentäters Issa al H.
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Warum wurde Issa al H. nicht abgeschoben?
Im Februar 2023 liegt die Akte von Issa al H. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). H. soll nach Bulgarien überstellt werden. Dort ist er erstmals in der EU registriert worden von der Polizei, dort soll auch sein Asylverfahren laufen. So sieht es das EU-Recht vor. Innerhalb von wenigen Wochen antworten die bulgarischen Behörden nach Informationen unserer Redaktion: Sie nehmen Issa al H., kein Problem. Das Bamf stellt den Abschiebebescheid aus, zuständig für H.s Überstellung nach Bulgarien ist damals die Ausländerbehörde in Bielefeld.
Doch am Tag der Abschiebung treffen Mitarbeitende der Behörde Issa al H. nicht in seiner Unterkunft in Paderborn an. Sie ziehen wieder ab. Warum die Ausländerbehörde nicht ein zweites Mal versucht, Issa al H. abzuschieben, bleibt unklar. Eine Erklärung kann sein: Die Organisation von Flug, Begleitung durch Bundespolizisten und die Absprache mit den bulgarischen Behörden dauert zu lange. Nach sechs Monaten, im Sommer 2023, endet die Frist für die Überstellung. Issa al H. geht in ein „nationales Asylverfahren“ über, das Bamf erteilt dem Syrer einen „subsidiären Schutzstatus“. Er ist nun legal in Deutschland. Er zieht nach Solingen in eine Aufnahmeeinrichtung.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat Aufklärung angekündigt. Abschiebungen sind Ländersache, die lokalen Behörden vor Ort verantwortlich. Die Frist von sechs Monaten kann laut EU-Recht auf 18 Monate verlängert werden, wenn eine Person „abgetaucht“ ist. Doch offenbar gab es hierfür keine Hinweise. Auch wenn Issa al H. am Tag seiner geplanten Abschiebung nicht in seiner Unterkunft gewesen ist, soll er laut Medienberichten dort gelebt und auch regelmäßig dort gewohnt haben.
Wie viele abgelehnte Asylbewerber sollen Deutschland verlassen?
Überstellungen innerhalb der EU sind aber nur eine Seite der Abschiebemedaille. Die andere: Rückführungen in Heimatländer wie Syrien, Afghanistan, Marokko, Türkei. Ende 2023 hielten sich in Deutschland nach Angaben der Bundesregierung 242.642 „vollziehbar ausreisepflichtige Personen“ auf. Das sind etwa abgelehnte Asylbewerber. Von diesen Menschen waren aber 193.972 geduldet, sie dürfen vorerst hierbleiben. Eine Duldung kann aus verschiedenen Gründen erteilt werden, etwa weil der jeweils Betroffene keinen Pass hat, weil eine schwere Erkrankung keine Abschiebung zulässt oder durch die Rückführung eine Familie getrennt würde. Das kann etwa der Fall sein, wenn ein Geduldeter ein minderjähriges Kind mit einer Aufenthaltsgenehmigung hat.
Wie viele werden abgeschoben?
Im vergangenen Jahr sind 16.430 Menschen aus Deutschland abgeschoben worden. Davor hielten sie sich der Bundesregierung zufolge im Schnitt zwei Jahre und fünf Monate in Deutschland auf. Zum Vergleich: 2022 schob Deutschland 12.945 Menschen ab, auch das war ein Plus gegenüber den Vorjahren. Im vergangenen Jahr konnten 31.330 Abschiebungen nicht vollzogen werden, davon scheiterten 30.276 vor Übergabe des jeweils Betroffenen an die Bundespolizei und 1054 während beziehungsweise nach der Übernahme durch die Bundespolizei. In den ersten drei Monaten 2024 sind 4791 Menschen abgeschoben worden.
Woran scheitern die Abschiebungen in Drittstaaten?
Im Fall von Syrien und Afghanistan scheitern Abschiebungen direkt in diese Staaten schlichtweg daran, dass die Bundesregierung keine diplomatischen Beziehungen zum syrischen Assad-Regime und den radikalislamischen Taliban in Afghanistan unterhält. Zudem gab es neben den praktischen Hindernissen bisher auch keinen politischen Konsens, abgelehnte Asylbewerber in die beiden Krisenstaaten zurückzubringen. Nach dem tödlichen Messerangriff eines Afghanen auf einen Polizisten in Mannheim im Juni hatte Scholz angekündigt, dass Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder aus den beiden Ländern wieder in ihre Heimatländer abgeschoben werden sollen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat den Auftrag bekommen, dies umzusetzen. Noch ist unklar, wie eine Vereinbarung aussehen kann.
Ein Problem in der Praxis: Die Menschen, die abgeschoben werden sollen, haben keine Pässe für ihr Heimatland. Sie brauchen „Passersatzpapiere“. Doch die sind oft mühsam zu beschaffen für deutsche Behörden, etwa bei den zuständigen Konsulaten. Das alles dauert. Ein Problem aus Sicht der Polizei auch: Abgelehnte Asylbewerber können nur unter engen rechtlichen Maßgaben in Abschiebehaft genommen werden, damit sie nicht untertauchen. Diese Unterbringung wurde rechtlich verschärft, weil Geflüchtete nicht mit Straftätern gleichgestellt werden sollen. Die Bundesländer bauten aufwendig Abschiebegefängnisse, doch noch immer sind die Plätze rar.
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Warum scheitern Überstellungen innerhalb Europas?
Häufigster Grund ist, dass die zuständigen EU-Staaten die Asylbewerber nicht wieder aufnehmen wollen. So haben deutsche Behörden vergangenes Jahr 74.622 Übernahmeersuchen gestellt – aber nur 5053 betroffene Asylbewerber mussten tatsächlich ausreisen. In fast 40.000 Fällen passierte genau das, was auch im Fall Issa al H. passierte: Die Ausländerbehörde konnte die Frist von sechs Monaten nicht einhalten. Oft auch ein Problem: Andere EU-Staaten verweigern die Aufnahme. Gerade Italien und Griechenland, wo sehr viele Schutzsuchende zuerst Asyl in der EU beantragen, nehmen kaum Menschen aus Deutschland auf. In anderen Fällen tauchen die Geflüchteten unter, sind für die Behörden nicht auffindbar. Auf Drängen der Bundesregierung enthält die neue EU-Asylreform Regeln, die ab 2026 das Überstellungsverfahren vereinfachen und längere Fristen für die Abschiebungen vorsehen. Bei untergetauchten Person beträgt sie dann drei Jahre.
Was sind die Vorschläge, die Abschiebungen zu verbessern?
Scholz sagte am Montag bei seinem Besuch des Tatorts in Solingen: „Wir werden alles dafür tun müssen, dass diejenigen, die hier in Deutschland nicht bleiben können und dürfen, auch zurückgeführt und abgeschoben werden.“ Die gesetzlichen Regelungen dafür seien gerade erst verschärft worden. Es solle aber geprüft werden, wie mit rechtlichen Regelungen und „konsequenter, praktischer Vollzugstätigkeit“ die Abschiebezahlen erhöht werden könnten, sagte Scholz, ohne konkret zu werden. Als ein Problem nannte er aber die bereits erwähnten Dublin-Fälle.
Auf EU-Ebene sollen vor allem die neuen Grenzverfahren Abschiebungen erleichtern: Mit der EU-Asylreform werden Asylbewerber, deren Antrag wenig Chancen hat, in zentralen Lagern an den Außengrenzen untergebracht, bis im Eilverfahren über ihr Schutzersuchen entschieden wurde – werden sie abgelehnt, sollen sie gleich von dort wieder in Dritt- oder Herkunftsstaaten abgeschoben werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Eilverfahren scharf, sehen Verstöße gegen die Menschenwürde und fordern rechtsstaatliche Garantien für Schutzsuchende.
Täter, Folgen, Hintergründe: Lesen Sie zum Anschlag in Solingen hier weiter:
- Der Täter: Issa al H. sollte abgeschoben werden – Patzten die Behörden?
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Ein weiterer Ansatz in der EU ist, dass Mitgliedstaaten zunehmend die Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex bemühen können, um Abschiebungen durchzusetzen – eine Behörde, die aufgrund von Vorwürfen zu illegalen „Pushbacks“ an der Außengrenze in der Kritik steht. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson macht sich für Lösungen stark, bei denen Asylbewerber mit Prämien motiviert werden sollen, freiwillig in ihre Heimat zurückzukehren. So etwas gibt es auch in Deutschland. Fachleute halten das für vielversprechend, sagen aber auch: Damit die freiwillige Ausreise funktioniert, braucht es den Druck der Abschiebungen. CDU-Chef Friedrich Merz fordert, dass Menschen aus Syrien und Afghanistan gar nicht erst nach Deutschland kommen, für sie soll ein Aufnahmestopp gelten. „Das würde gegen das Grundgesetz und mutmaßlich auch gegen EU-Menschenrechtsverordnungen verstoßen“, lehnte Regierungssprecher Steffen Hebestreit den Vorstoß ab.