Brüssel/Berlin. Geheimdienste beobachten verdächtige Arbeiten, ein russischer Admiral meldet sich startklar: Plant Putin eine gefährliche Eskalation?
Hoch im eisigen Norden meldete der russische Admiral Andrey Sinitsyn vollständige Bereitschaft für einen Einsatz, der die Welt erschüttern könnte. Russlands Atom-Testanlage auf der Insel Novaya Zemlya im Nordpolarmeer sei vorbereitet für den Bombentest, erklärte der Chef der Anlage vor wenigen Tagen. Gebäude, Labore, Personal, alles fertig. „Wenn der Befehl kommt, können wir jederzeit mit dem Test beginnen“, sagte Sinitsyn. Er übertreibt wohl nicht.
Westliche Geheimdienste beobachten seit längerem verdächtige Aktivitäten auf der arktischen Insel. Dort machte die Sowjetunion im Kalten Krieg ober- und unteridische Atombombenversuche, zuletzt explodierte 1990 ein 70-Kilotonnen-Sprengkopf 600 Meter unter der Erde. Satellitenaufnahmen zeigen viel Schiffsverkehr zum Archipel und neue Gebäude. Tief unter den arktischen Bergen wurden zusätzliche Tunnel gegraben. Plant Russland nach dreieinhalb Jahrzehnten erstmals wieder einen Atomtest, der weltweit einen gefährlichen Rüstungswettlauf einläuten könnte? Wladimir Putins Berater drängen seit langem darauf, um dem Westen die angebliche Entschlossenheit zu demonstrieren, bei einer Eskalation des Ukraine-Kriegs notfalls auch Atomwaffen einzusetzen.
Kommentar zum Thema: Selenskyjs „Siegesplan“ ist ein Akt der Verzweiflung
„Weltkrieg mit Atomwaffen“ – Drohungen aus Russland gewinnen an Intensität
Die öffentliche Ankündigung des Admirals ist offensichtlich als Warnung gedacht. Später relativierte Vize-Verteidigungsminister Sergey Ryabko die Erklärung, doch westliche Experten halten einen russischen Atomtest durchaus für eine realistische Option. Moskau ist nervös, weil die Forderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, westliche Raketen auch für Angriffe tief im russischen Hinterland verwenden zu dürfen, in der US-Regierung jetzt auf offene Ohren stößt. Selenskyj will den russischen Präsidenten Wladimir Putin so zu Friedensverhandlungen zwingen – doch der Kremlherrscher kündigt drohend eine „angemessene Antwort“ an, während seine Vertrauten schon vom „Weltkrieg mit Atomwaffen“ schwadronieren.
Als das EU-Parlament in Straßburg vor wenigen Tagen Selenskyjs Forderung nach Freigabe westlicher Waffen ausdrücklich unterstützte, tobte der Vorsitzende der russischen Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin: „Wenn so etwas passiert, wird Russland mit stärkeren Waffen hart reagieren.“ Er drohte den Abgeordneten, die Flugzeit einer Sarmat-Atomrakete nach Straßburg „beträgt 3 Minuten 20 Sekunden.“ Theater, ohne Zweifel. Aber Putin hätte durchaus ernsthaft Eskalationsmöglichkeiten – es ist der Grund, warum die USA und auch die Bundesregierung die Waffenfreigabe bisher abgelehnt haben.
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Atomwaffenexperte: Angriff auf Nato-Territorium wäre denkbar
„Putin hat schon bisher auf die kleinen Eskalationsschritte des Westens mit Maßnahmen reagiert“, sagt der Atomwaffenexperte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) unserer Redaktion. Dazu zählten Luftangriffe vor allem auf die zivile Infrastruktur der Ukraine, die wiederholten rhetorischen Nukleardrohungen, aber auch Sabotageakte und andere hybride Maßnahmen gegen Ziele im Westen, sagt Kühn.
Auf die Freigabe westlicher Waffen für Ziele in Russland könne er mit ähnlichen Maßnahmen reagieren. Oder eben in neuer Qualität: „Es kann sein, dass Putin glaubt, er müsse jetzt härter reagieren, um im In- und Ausland nicht als schwach wahrgenommen zu werden“, meint Kühn. Denkbar, aber unwahrscheinlich wäre dem Sicherheitsforscher zufolge ein Angriff auf Nato-Territorium – etwa mit einem konventionellen Präzisionsschlag auf Nachschublinien für Waffenlieferungen an die Ukraine, was eine massive Eskalation bedeuten würde. Und: „Als extreme Eskalation möglich wäre auch ein Atomwaffen-Test“, betont Kühn. „Damit würde Russland aber offen gegen den Atomteststopp-Vertrag verstoßen, das hätte massive politische Folgen.“
Russlands Hardliner fordern Wiederaufnahme von Atomwaffen-Tests
Nicht nur Kühn hält diese Eskalation für denkbar. Sicherheitsexperten im Westen wie in Russland diskutieren längst die Folgen einer solchen Atomtest-Demonstration – denn die Vorbereitungen in Russland sind offenkundig. Russlands Hardliner plädieren seit einem Jahr für die Wiederaufnahme der Tests, um die Nato im Ukraine-Krieg zu erschrecken.
Demonstrativ hatte Putin vorigen Herbst die Ratifizierung des 1996 abgeschlossenen Atomwaffenteststopp-Vertrags zurückgezogen. Wenn nötig, könne Russland eine Atombombe testen, sagte der Präsident. Seine Absicht wäre, den Westen von weiteren Interventionen in der Ukraine abzuschrecken und die Unterstützung für Kiew zu schwächen, erläutert Atomexperte Heather Williams vom Washingtoner Sicherheits-Forschungsinstitut CSIS. Eine Schlüsselfrage sei aber, wie China und Indien reagieren würden.
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Gefährliche Rüstungsspirale könnte in Gang kommen
Der dänische Abrüstungsexperte Hans Kristensen fürchtet: „In dem Moment, in dem eine Atommacht Tests wieder aufnimmt, werden alle anderen folgen.“ Der frühere US-Unterhändler für den Teststopp-Vertrag, William Courtney, mahnt, ein russischer Atomtest werde eine Antwort des Westens verlangen, sonst werde Putin das als Schwäche auslegen: Dazu könnte die Wiederaufnahme von Atomtests auch durch die USA zählen, die Aufrüstung von zusätzlichen US-Kriegsschiffen mit Atom-Marschflugkörpern oder die Stationierung von US-Atomsprengköpfen in Polen. Die atomare Rüstungsspirale würde sich schneller drehen. Noch ist offen, wie realistisch solche Szenarien sind.
Auch wenn der Westen seine Waffen jetzt für Angriffe in Russland freigeben sollte: „Aus militärischer Sicht wäre eine harte Antwort Putins nicht begründet“, stellt der Hamburger Sicherheitsforscher Kühn klar. Russland sei derzeit im Ukraine-Krieg im Vorteil, die Armee habe zudem Vorsorge getroffen für mögliche Raketenangriffe im Hinterland und zum Beispiel Kampfjets verlegt. „Außerdem weiß der russische Präsident, dass der Westen danach kaum noch weitere Eskalationsmöglichkeiten hätte.“
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Experte: Langstreckenwaffen an Ukraine mit klaren Kriterien verknüpfen
Das Problem sei aber: „Wir wissen nicht, wo Putins rote Linien verlaufen, wahrscheinlich weiß er es selbst nicht so genau. Es wäre jedoch falsch, aus den bisherigen Erfahrungen abzuleiten, dass Putin nur blufft“, meint Kühn. „Dass eine rote Linie überschritten wurde, weiß man erst, wenn es zu spät ist.“
Wenn der Westen weitreichende Waffen für Angriffe auf Russland freigeben sollte, sollte er das mit klaren Regeln für die Ukraine verbinden, was legitime Ziele sind und was nicht, betont der Hamburger Wissenschaftler. Die Einigkeit der Allianz dürfe nicht gefährdet werden. Und, warnt Kühn: Eine schlechte Lösung wäre es, wenn die USA den Einsatz ihrer eigenen Waffen weiter untersagen, aber den von französischen und britischen absegnen würden: „Dann müssten Frankreich und Großbritannien vermutlich eine harte Reaktion Russlands befürchten.“
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