Berlin. Erst der Haushalt, dann das Wahlrecht, jetzt das Compact-Verbot: Immer wieder scheitert Regierungspolitik vor Richtern. Wie kommt das?
Für Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ist es ein schmerzhafter Anblick. Jürgen Elsässer sitzt auf einem Sofa, neben ihm Weggefährten. „Sieg! Sieg! Sieg“, rufen sie in die Kamera. Das Video hat bald darauf Hunderttausende Besuche in den sozialen Medien. „Der größte Triumph in der Nachkriegsgeschichte“, sagt Elsässer. Er kennt sich aus mit Propaganda, er kostet den Moment aus. Sie stoßen an.
Was Elsässer mit dem „Triumph“ meint, ist eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. In einem Eilverfahren gewinnt Elsässers „Compact“-Magazin gegen das Verbot, das Faeser erst vor einem Monat verbieten ließ. Die Ministerin nennt „Compact“ ein „zentrales Sprachrohr der rechtsextremistischen Szene“. Doch die Richter haben Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Verbots – schließlich ist die Pressefreiheit ein hohes Gut der Verfassung.
Der Gerichtsentscheid zu Compact ist für die Bundesregierung eine Niederlage
Die endgültige Entscheidung über das Verbot der Zeitschrift kommt erst noch, das Hauptsacheverfahren steht noch aus. Und doch ist der Eilbeschluss eine Niederlage für die Bundesregierung – vor allem eine politische.
Erst im November vergangenen Jahres erlebte die Ampel-Koalition von SPD, Grünen und FDP eine bittere Klatsche in Karlsruhe. Der Nachtragshaushalt 2021 ist verfassungswidrig, auf einmal klaffte ein Loch von 60 Milliarden Euro. Bis heute belastet die Haushaltspleite vor Gericht die Regierung. Nicht der einzige Fall: Im vergangenen Jahr siegte die Union mit einem Eilantrag in Karlsruhe, die Bundesregierung missachte bei der Debatte über das Heizungsgesetz die Rechte der Parlamentarier, so der Beschluss. Ende Juli korrigierte das Verfassungsgericht die Wahlrechtsreform der Koalition, zumindest in Teilen. In einem Jahr wird gewählt, die Zeit drängt. Und nun der Fall „Compact“.
Viele Prozesse, immer wieder Urteile gegen die Regierung: Macht die Ampel juristisch handwerklich schlechte Politik? „So pauschal lässt sich das nicht sagen, jeder Fall ist anders gestaltet“, sagt Hans-Jürgen Papier, Staatsrechtswissenschaftler und früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, im Gespräch mit unserer Redaktion. Ganz grundsätzlich sei es rechtstaatlich in Ordnung, wenn Gesetze oder Behördenentscheidungen von Gerichten bisweilen beanstandet werden. „Richterliche Kontrolle ist ein Wesensmerkmal des Rechtsstaates“, sagt Papier.
„Die Ampel-Koalition ist ein hohes juristisches Risiko eingegangen“
Und doch treibt ihn etwas um. Die Ampel-Koalition ist nicht im besten Zustand, Streitereien prägen das Bild der Regierung. „Wenn politische Entscheidungen nur noch nach zähen Beratungen und teilweise unter Zeitdruck getroffen werden, dann besteht die Gefahr, dass diese Kompromissentscheidungen nicht hinreichend durchdacht und auch nicht juristisch hinreichend geprüft sind“, sagt Papier. „Die Ampel-Koalition ist so bei ihren Entscheidungen zum Haushalt sowie zum Wahlrecht ein hohes juristisches Risiko eingegangen.“
In den kommenden Monaten könnte der Ärger der Ampel mit den Richterinnen und Richtern weitergehen. Karlsruhe will die Rechtmäßigkeit des Solidaritätszuschlags prüfen. Kippt das Gericht den „Soli“, klaffen im nächsten Haushalt neue Milliarden-Lücken.
Weitere Klagen etwa zum Bundesausbildungsförderungsgesetz und zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sind beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Auch diese Entscheidungen könnten unangenehme Folgen für die Regierungspolitik haben.
Macht eine Regierung juristisch bessere Gesetze, wenn sie weniger streitet? „Sind politische Entscheidungen besser vorbereitet und eingehender durchdacht, können Regierung und Parlament auch die juristischen Risiken besser abwägen – anders ist es, wenn Gesetze etwa in nächtlichen Beratungsrunden und in letzter Minute beschlossen werden“, sagt Jurist Papier. „Das hat sich auch während der Corona-Pandemie gezeigt.“
So hatten auch vorangegangene Koalitionen juristischen Ärger. 2021 kassierte Karlsruhe Teile des Klimaschutzgesetzes, der Bund musste nachbessern vor allem bei der Senkung von Treibhausgases. 2006, fünf Jahre nach den Terroranschlägen auf New York, erklärten die Richter das Luftsicherheitsgesetz der damaligen Bundesregierung für nichtig. Es sollte den Abschuss von Passagiermaschinen erlauben, die von Terroristen gekapert sind. Das sind nur einzelne von einigen wegweisenden Urteilen.
In Deutschland hat das Verfassungsgericht großen Einfluss auf die Gesetzgebung, mehr etwa als „in den USA, Großbritannien oder Frankreich“, wie Joachim Wieland von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer hervorhebt. „Ein Problem für Deutschland wird es dann, wenn eine Seite, etwa die Opposition, immer vor Gericht gewinnt, und die andere Seite immer verliert. An diesem Punkt sind wir aber nicht.“
Für Streit in der Ampel sorgen auch Pläne des Bundesinnenministeriums, wonach das Bundeskriminalamt heimlich Wohnungen durchsuchen können soll, wenn es um die Abwehr von Terroranschlägen geht. Auch dieses Vorhaben könnte in Karlsruhe landen. Schon in den 1990er-Jahren löste der „Große Lauschangriff“ hitzige Debatten in Deutschland aus – die Möglichkeit, den Wohnraum im Kampf gegen Kriminelle heimlich zu überwachen. Doch das entsprechende Gesetz entschärfen die Karlsruher Richter 2004 erheblich. Präsident am Verfassungsgericht damals war Hans-Jürgen Papier.
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