Berlin. In Norddeutschland bildet die Bundeswehr ukrainische Soldaten am Patriot-System aus. Präsident Selenskyj kommt zum Truppenbesuch.
Truppenübungsplatz Sanitz – ein Patriot-System steht vor dem grauen Himmel Norddeutschlands. Es regnet über dem Militärgelände, drumherum Felder und Wiesen. Hier bildet die Bundeswehr im Eilverfahren ukrainische Soldaten in der Luftverteidigung aus. In Kürze werden die Soldaten und das Gerät in der Ukraine im Einsatz sein, sie werden sehnsüchtig erwartet. „Wer den Luftraum erobert, gewinnt den Krieg“, sagt der Chef der ukrainischen Delegation.
Der Name des Soldaten darf nicht genannt werden, auch der genaue Ort der Ausbildung ist geheim. Es darf nur gesagt werden, dass er in Mecklenburg-Vorpommern liegt. Die in Sanitz im Landkreis Rostock stationierte Flugabwehrraketengruppe 21 Bundeswehr paukt, übt und trainiert von Montag bis Samstag, von acht Uhr bis 18 Uhr mit den Ukrainern. Dolmetscher helfen bei der Verständigung.
Ukraine-Krieg: In Norddeutschland lernen die Soldaten – hochkonzentriert, fern der Front
Normalerweise dauert die Patriot-Ausbildung neun Monate, die ukrainische Einheit wird innerhalb weniger Wochen geschult. Hier können sie hochkonzentriert arbeiten, ohne Luftalarm in der Nacht, fern der Front. „Die wollen lieber schneller sein als langsam“, erzählt Oberstleutnant Manuel Leder, der Ausbildungsleiter und Kommandeur der Flugabwehrraketengruppe 21. Anfangs wollten die Gäste aus der Ukraine auch am Sonntag trainieren. „Die wollen zurück.“ Zurück in die Heimat. Zurück in den Krieg. Die Ukraine ist militärisch unter Druck.
Mehr als 800 Tage ist es her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Deutschland hilft dem Land mit umfangreicher militärischer Unterstützung. Dazu gehört neben Waffenlieferungen auch die Ausbildung von bisher mehr als 10.000 ukrainischen Soldaten an westlichem Gerät wie dem Patriot-System.
Mehr zum Besuch von Selenskyj in Deutschland
- Wolodymyr und Olaf – Deshalb duzen sie sich heute
- Selenskyj spricht im Bundestag: BSW und AfD bleiben Rede fern
- Selenskyj-Besuch: Wagenknecht-Partei verhält sich erbärmlich
Zwei Patriot-Systeme sind bereits geliefert
Zwei der hochmodernen Systeme mitsamt Raketen hat Deutschland der Ukraine bereits geliefert. Das Dritte wird auf geheimen Wegen in die Ukraine gebracht, sobald die Soldaten ihre Ausbildung hier in Mecklenburg-Vorpommern daran absolviert haben. Das System werde im Krieg gegen Russland einen Unterschied für sein Land machen, ist sich der Kommandant der ukrainischen Einheit sicher.
Russlands Staatschef Wladimir Putin überzieht die Ukraine mit Terror aus der Luft. Seine Raketen treffen Städte und Dörfer, Wohngebiete und Infrastruktur. Besonders die Großstadt Charkiw ist derzeit in Russlands Visier. Mit den Patriot-Systemen können die Ukrainer Kampfjets, ballistische Raketen und Marschflugkörper bis zu einer Entfernung von knapp 70 Kilometern bekämpfen. Zum Beschuss von militärischen Stellungen auf russischem Boden eignet sich das System nicht. Die Bundesregierung hatte der Ukraine kürzlich erlaubt, mit von Deutschland gelieferten Waffen auch Stellungen in Russland anzugreifen.
Das westliche System gilt als eins der modernsten weltweit und ist eins der besten Beispiele dafür, wie westliche Waffen der Ukraine bei ihrer Verteidigung helfen: Ein Radar erfasst Objekte am Himmel – bis zu 50 gleichzeitig. Wird ein Objekt als feindlich eingestuft, können die Soldaten im Feuerleitstand aus dem Startgerät bis zu fünf Lenkflugkörper zeitgleich auf den Weg schicken, um die Bedrohung zu zerstören.
- Die wichtigsten Anworten: Wie wahrscheinlich es ist, dass Putin die Nato angreift?
- Kommentar: So gefährlich sind Wladimir Putins Atom-Drohungen wirklich
- Atomwaffen: Mitten in den USA probt die Ukraine für russischen Atomschlag
- Fragen & Antworten: US-Raketen auf Russland: Eskaliert jetzt der Ukraine-Krieg?
- Waffen: RS-26 „Rubezh“: Was die Interkontinentalrakete gefährlich macht
Es ist ein besonderer Tag: Selenskyj kommt zu Besuch
Die ukrainischen Soldaten in der Einheit in Mecklenburg-Vorpommern sind etwa zwischen 30 und 50 Jahre alt. Sie sind kampferfahren, waren bisher aber an dem sowjetischen System S300 im Einsatz, berichtet der ukrainische Delegationschef. Er ist sich jedoch sicher, dass die Umstellung schnell gelingt. Die Ausbildung der Deutschen sei gut, seine Soldaten wissbegierig. Die Ukrainer lernen, wie sie das System am effektivsten einsetzen, wie sie die drei Einheiten – Radar, Feuerleitstand, Raketenstartgerät – miteinander koordinieren. Scharfe Schüsse geben sie nicht ab, das wird am Simulator trainiert.
Heute ist ein besonderer Tag für die Einheit: Der Oberbefehlshaber der Ukraine kommt. Es dröhnen Rotoren, dunkelblaue Hubschrauber der Bundespolizei nähern sich dem Truppenübungsplatz. Aus einem der Helikopter steigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er trägt einen schwarzen Pullover mit dem Abzeichen der ukrainischen Armee, eine olivgrüne Hose und hellbraune Stiefel. Es ist das erste Mal, dass der Staatschef die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland durch die Bundeswehr besucht. In der Truppe wird das als besondere Wertschätzung für ihre Arbeit gesehen.
Der Termin war im Vorfeld streng geheim gehalten worden. Selenskyj gilt als einer der am stärksten gefährdeten Politiker der Welt. Der Staatschef ist wegen einer zweitägigen Wiederaufbaukonferenz der Bundesregierung für sein Land nach Berlin gekommen. „Es ist der Raketen- und Bombenterror, der den russischen Truppen hilft, am Boden voranzukommen“, sagte der Staatschef auf der Konferenz. „Luftabwehr ist die Antwort.“ Sieben zusätzliche Patriot-Systeme wünscht sich Selenskyj für den Schutz seines Landes.
Bei dem Truppenbesuch in Norddeutschland dankt er aber vor allem für die deutsche Unterstützung. Der Präsident weiß, dass Deutschland bereits ein Viertel seiner aktuell verfügbaren Patriots der Ukraine zugesagt hat.
- Offensive in Kursk: „Die Russen machen ihre eigene Stadt dem Erdboden gleich“
- In ständiger Gefahr: Was passiert, wenn Selenskyj stirbt?
- Erfinderisch im Krieg: Studenten bauen Panzerfahrzeug – mit genialen Funktionen
- Wunder Punkt: Putin setzt teure Spezial-Raketen ein – mit einem Ziel
- Ukraine-Konflikt: Sie nennen ihn „Dachs“ – Spezialist soll Superwaffen-Einheit aufbauen
Der Termin wurde aus Sicherheitsgründen nicht angekündigt
Dass Selenskyj auch seine Soldaten in Norddeutschland besucht, wurde aus Sicherheitsgründen nicht angekündigt. Es gelten strenge Regeln: Aufnahmen von den ukrainischen Soldaten sind nur erlaubt, wenn die Gesichter nicht zu erkennen sind. Fotos mit dem Handy dürfen nur gemacht werden, wenn die Ortungsfunktion ausgeschaltet ist, damit die Metadaten nicht den Standort verraten.
Selenskyj zeichnet einige der Soldaten mit einer Ehrenmedaille aus. „Die meisten von ihnen kommen aus russisch besetzen Gebieten“, berichtet der Präsident. „Deswegen sind sie motiviert, schnell zurückzukommen.“ Er lobt die schnelle Ausbildung seiner Soldaten hier in Deutschland. „Das ist wichtig für uns. Denn die gesparte Zeit schützt Menschenleben.“
Zusätzliche Waffen für die Ukraine
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) begleitet Selenskyj an diesem Tag. Pistorius sagt der Ukraine zusätzliche Waffen zu, darunter Scharfschützengewehre, Drohnen und 100 zusätzliche Lenkflugkörper für die Patriots. Das sei ihm eine „Herzensangelegenheit“, sagt Pistorius, der kürzlich in der Ukraine erlebt hat, wie sehr das Land unter den Luftangriffen leidet. „Mit diesen Raketen werden auch die hier exzellent ausgebildeten Soldatinnen und Soldaten bald in der Ukraine Leben retten und Infrastruktur schützen können.“
90 Soldaten braucht es in der Regel für die Bedienung eines Patriot-Systems. Wie viele Ukrainer auf der Zielgeraden ihrer Ausbildung sind und bald in den Krieg zurückkehren werden, ist ebenfalls geheim. Sind dann Verbindungen gewachsen zu den Ausbildern der Flugabwehrraketengruppe 21? Nein, sagt Kommandeur Manuel Leder. Es werden keine privaten Kontakte ausgetauscht, es dürften keine Identitäten aufgedeckt werden. „Freundschaften kann es aus Sicherheitsgründen nicht geben.“
Mehr Reportagen von Kriegsreporter Jan Jessen
- Israel und Gaza seit Hamas-Angriff: Am Morgen bricht die Hölle auf
- Christ aus Beirut berichtet: „Es bricht einem das Herz“
- Syrer bewachen deutsche IS-Terroristen: „Niemand hilft uns“
- Syrien: Im Camp der „Höllenfrauen“ hofft man auf die Wiedergeburt des IS
- Terroristen im Lager: In al-Hol wächst eine neue Generation des Hasses heran