Odessa. Die Hoffnung auf ein Ende des Kriegs schwindet, viele Familien flüchten aus der Ukraine. Eine Reise mit ihnen in ungewisse Zukunft.

Der Himmel über Odessa ist wolkenverhangen, es ist kühl an diesem frühen Märzmorgen. Vor dem Hauptbahnhof, einem prächtigen Kuppelbau, auf dem die ukrainische Fahne weht, steht ein weißer Bus. Davor warten fröstelnde Menschen, sie wirken angespannt und bedrückt. Die Familie Fanahei überquert die Straße. Die Eltern ziehen hinter sich zwei Koffer, in denen die Reste ihres Lebens sind. Die drei Kinder sind müde.

Um 1 Uhr morgens sind sie vom Wummern der Luftabwehr geweckt worden, die Nacht war unruhig. Explosionen haben den Horizont blutrot gefärbt. Vladyslav lächelt gequält. „Ich bin nervös.“ Vor ihnen liegt eine Fahrt von fast 40 Stunden, das Ziel ist München. Es ist das zweite Mal, dass die Fanaheis aus der Ukraine fliehen.

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Der zweite Kriegswinter in der Ukraine ist fast vorbei, und die Lage dramatisch. Die Hoffnung auf ein rasches Ende des Krieges oder auf einen Sieg schwinden. An den Fronten im Süden und Osten des Landes üben die russischen Streitkräfte massiven Druck aus. Den ukrainischen Verteidigern gehen die Munition und die Soldaten aus. Die russischen Luftangriffe werden wieder intensiver. Die Behörden haben erst kürzlich erneut Evakuierungsanordnungen für frontnahe Dörfer bei Kupjansk erlassen.

Vor der Familie Fanahei liegt eine fast 40-stündige Fahrt nach München.
Vor der Familie Fanahei liegt eine fast 40-stündige Fahrt nach München. © FUNKE Foto Services | Dmitriy Kopitskiy

„Manchmal haben wir kein Geld, um uns Brot zu kaufen“

Hunderte müssen in Sicherheit gebracht werden. „Es brodelt etwas im Land“, sagt Andreas Tölke, Vorsitzender der Berliner Hilfsorganisation „Be an Angel“. Er und seine Leute haben seit dem Beginn des russischen Überfalls mehr als 22.000 Menschen aus der Ukraine herausgeholt und nach Deutschland gebracht. Seit drei Monaten steigen die Anfragen.

Am Abend vor der Reise nach Deutschland sitzen die Fanaheis in der Lobby eines Hotels in Odessa. Sie stammen aus einem Dorf in der Region Saporischschja, das von den Russen besetzt worden ist. Vor dem Krieg haben die Eltern auf einer Hühnerfarm gearbeitet. Ein halbes Jahr lebten sie unter der Besatzung, dann konnten sie über einen humanitären Korridor fliehen. Sie gingen nach Polen, lebten dort sieben Monate, kehrten wieder in die Ukraine zurück, in die Hauptstadt Kiew.

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„Was soll aus meinen Kindern werden, wenn ich sterbe?“

Zur Ruhe kommen sie nicht. „Die Lage wird hier immer schlimmer“, sagt Vladyslav. Er ahnt: Der Krieg wird noch Jahre dauern. Aber es ist nicht nur die Lage an der Front, es sind nicht nur die ständigen Luftangriffe, die ihn, seine Frau und die Kinder mürbe gemacht haben. „Wir finden keine Arbeit und bekommen keine Unterstützung vom Staat. Manchmal haben wir kein Geld, um uns Brot zu kaufen.“ Also haben sie beschlossen, erneut zu fliehen. Als Vater von drei Kindern darf Vladyslav das Land verlassen, anders als Millionen andere ukrainische Männer. Er will nicht kämpfen. „Was soll aus meinen Kindern werden, wenn ich sterbe?“ Seine Frau sagt: „Wir haben schon einen Verwandten beerdigt, den Mann meiner Cousine. Er ist bei Luhansk gefallen.“

Putins Krieg hat bereits elf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zu Flüchtlingen gemacht. Fünf Millionen leben als Binnenvertriebene im Land. Der Staat, das berichten nicht nur die Fanaheis, hat für manche dieser Binnenvertriebenen die ohnehin bescheidenen monatlichen Zahlungen eingestellt, mit denen sie über die Runden kommen sollten. In den im Herbst 2022 befreiten Gebieten stockt der Wiederaufbau, viele Versprechen sind nicht erfüllt worden. Ein Mangel an Perspektiven ist ein Fluchtgrund.

In diesem Sommer könnten die Zahlen derjenigen, die das Land verlassen, rapide steigen, wenn den Russen größere militärische Durchbrüche gelingen. Das ahnen auch deutsche Behörden. Zwar hätten die bisherigen Frontverschiebungen nicht zu einem größeren Zustrom von Geflüchteten wie zu Beginn des russischen Angriffskrieges geführt, sagt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Aber: „Ein erneuter Zustrom ukrainischer Geflüchteter als Konsequenz einer weiteren Eskalation des von Russland geführten völkerrechtswidrigen Angriffskriegs ist möglich.“

Die nächste Evakuierungsmission ist schon für den 15. April geplant. Es wird die 221. sein. 
Die nächste Evakuierungsmission ist schon für den 15. April geplant. Es wird die 221. sein.  © FUNKE Foto Services | Dmitriy Kopitskiy

Doppelt so viele Anfragen von Menschen, die aus der Ukraine flüchten wollen

Die Erfahrungen der Helfer von „Be an Angel“ könnten ein Indiz dafür sein, dass ein solcher Zustrom bevorsteht. „Wir hatten Zeiten, in denen wir monatlich 80 Anfragen von Menschen hatten, die aus der Ukraine herausgebracht werden wollten. Jetzt sind es doppelt so viele“, berichtet Andreas Tölke. Gleichzeitig geht das Spendenaufkommen „brutal zurück“. Ein Dilemma.

Gegen 8 Uhr morgens vor dem Bahnhof in Odessa. Die Fanaheis steigen in den Bus, den die Berliner Helfer gechartert haben. Svetlana hat Illia, den jüngsten auf dem Arm, sie streichelt ihn in den Schlaf. Draußen umarmt Lyudmila Vorobkanych ihren Mann Mykhailo innig. Sie weint, er versucht, die Fassung zu bewahren. Die beiden haben nur einen Sohn, der Junge darf mit. Mykhailo muss bleiben.

„Ich habe beschlossen, meine Familie zu einem sicheren Ort zu schicken“, sagt der 38-Jährige. Sie waren in Mykolajiw, als die Stadt bombardiert wurde. Sie waren in Odessa, als hier die schweren Luftangriffe begannen. „Ich mache mir Sorgen um meine Frau und meinen Sohn.“ Er ist seit 18 Jahren mit Lyudmila verheiratet. „Es ist das erste Mal, dass wir voneinander getrennt sein werden.“ Er wischt sich über die Augen, drückt seine Frau fest, sie presst ihr Gesicht in seine Jacke.

Lyudmila Vorobkanych und ihr Mann Mykhailo müssen Abschied nehmen. Nur Lyudmila und ihr Sohn dürfen in den Bus steigen.
Lyudmila Vorobkanych und ihr Mann Mykhailo müssen Abschied nehmen. Nur Lyudmila und ihr Sohn dürfen in den Bus steigen. © FUNKE Foto Services | Jan Jessen

Nicht alle der 61 Flüchtlinge schaffen es aus der Ukraine raus

Als der Bus losfährt, ist es drinnen still. Einige der Flüchtlinge schauen durch die beschlagenen Scheiben nach draußen oder starren erschöpft ins Leere, andere haben die Augen geschlossen. Auch für Tatiana Kruchynina ist es das zweite Mal, dass sie die Heimat verlässt. Sie kommt aus Charkiw im Nordosten der Ukraine nahe der russischen Grenze. Als der Überfall begann, ist sie nach Polen geflohen. Nachdem die ukrainischen Streitkräfte die Russen im Herbst 2022 zurückgedrängt hatten, ist sie zurückgekehrt. „Jetzt bombardieren sie die Stadt wieder sehr hart.“

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Nun flieht sie ein zweites Mal, diesmal gemeinsam mit ihrer Tochter Olga. „Sie ist schwanger. Ich möchte, dass sie ihr Kind in einer friedlichen und ruhigen Umgebung zur Welt bringen kann.“ Vielleicht, sagt Kruchynina, werden sie nach Berlin gehen, dort lebt eine Freundin. Nicht alle der 61 Flüchtlinge an Bord schaffen es heraus. Nach einer Stunde hält der Bus an einem Checkpoint zwei Kilometer vor der Grenze zur Republik Moldau. Soldaten überprüfen die Dokumente der Menschen. Zwei junge Männer müssen mit ihren Müttern aussteigen.

Anja Duplinska, die Koordinatorin der ukrainischen Sektion von „Be an Angel“ versucht, die Grenzer davon zu überzeugen, die Leute weiterreisen zu lassen. Vergeblich. Ein junger Mann kann nicht nachweisen, dass er die einzige Betreuungsperson für seine alte Mutter ist, die Dokumente des anderen sind veraltet. Die vier müssen bleiben. Tränen der Verzweiflung fließen. „Das passiert immer wieder. Ist ziemlich bitter“, sagt Andreas Tölke. An der moldawischen Grenze steht der Bus noch einmal eine gute Stunde. Dann sind die Fanaheis und die anderen in Sicherheit. „Ich bin froh. Ich bin ruhig. Ich bin nicht mehr nervös“, sagt Svetlana mit einem müden Lächeln. 36 Stunden später kommen sie in München an.

Aktuell sind im Ausländerzentralregister rund 1,1 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Deutschland registriert. Am 15. April fahren die Helfer von „Be an Angel“ wieder in die Ukraine. Die nächste Evakuierungsmission steht an. Es wird die 221. sein.