Erfurt. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Heusgen über Putins größtes Ziel, seine Europa-Strategie – und die Schlüsselrolle Polens.

Mit der Abhör-Affäre bei der Bundeswehr will Russlands Präsident Wladimir Putin Europa spalten, glaubt der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, und fordert vor allem ein Signal der Geschlossenheit. Im Gespräch erklärt der einstige sicherheitspolitische Berater von Angela Merkel auch, warum er den Kanzler verteidigt – und was er sich von Polen verspricht.

Herr Heusgen, Russland hat geheime Absprachen der Bundeswehr über den möglichen Einsatz deutscher Marschflugkörper im Ukraine-Krieg veröffentlicht. Wie groß ist der Schaden?

Christoph Heusgen: Das wird sich zeigen. Aber hoffentlich hat die Aktion jedem klargemacht, wie Russland gegen uns arbeitet. Es geht Putin darum, die westliche Allianz zu destabilisieren, Misstrauen und Angst zu schüren. Russland führt Krieg an mehreren Fronten. Die militärische Front befindet sich in der Ukraine. Doch die politische Front ist überall. Als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land in Europa sind wir neben den USA das zentrale Ziel solcher Desinformationsangriffe.

Dass die Veröffentlichung den Westen spalten soll, haben wir verstanden. Aber Desinformation? Die Gespräche sind authentisch …

… und in ihrem Inhalt absolut normal. Da sitzen Offiziere zusammen, die über das Waffensystem Taurus sprechen und die Art des möglichen Einsatzes – durch die Ukraine, wohlgemerkt, und nicht durch Deutschland. Das ist nicht anstößig, das ist ihr Job. Und sie bereiten ja auch nur Entscheidungen vor, die am Ende Politiker fällen. Dass allerdings zugelassen wurde, dass eine derart sensible Konferenz abgehört und veröffentlicht werden konnte, ist sehr schädlich. Denn Russland konnte dadurch die Inhalte instrumentalisieren – und Desinformation betreiben.

Immerhin sind wir jetzt darüber informiert, dass der Bundeskanzler nicht recht hatte, als er erklärte, dass für die Programmierung von Taurus deutsche Soldaten in der Ukraine nötig sind.

Der Mitschnitt bestätigt, dass der Einsatz ohne deutsche Beteiligung möglich ist. Dass die Argumentation von Olaf Scholz an dieser Stelle wenig stichhaltig ist, wussten wir aber schon vorher. Denn dafür reicht allein ein Blick nach Südkorea: Dort, in einem Land, das sich formal immer noch im Kriegszustand befindet, sind seit Längerem Taurus-Marschflugkörper stationiert – und kein deutscher Soldat ist dort, um sie zu programmieren. Die Südkoreaner wurden angelernt und würden im Ernstfall die Waffen selbst bedienen.

Also hat Scholz die Unwahrheit gesagt, wie es der Grüne Anton Hofreiter behauptet?

Er hat eine Teilwahrheit ausgesprochen, nämlich dass ein kurzfristiger Einsatz nicht ohne deutsche Beteiligung möglich ist. Zuerst müssten die ukrainischen Soldaten am Taurus-System geschult werden. Wie beim Kampfpanzer Leopard würde also ein gewisser Vorlauf benötigt.

In der SPD heißt es, die Ukraine benötige viel dringender Munition als Marschflugkörper. Ist da nicht was dran?

Die Ukraine benötigt beides. Um die Frontlinie halten zu können, braucht die Armee tatsächlich schnell mehr Artilleriemunition. Aber sie benötigt auch die Taurus-Flugkörper, um die russischen Versorgungslinien treffen zu können – in besetztem ukrainischen Territorium, nicht in Russland selbst. Dieser Unterschied ist wichtig. Im Übrigen gilt: Je entschlossener wir die Ukraine unterstützen, umso schneller wird dieser Krieg enden. Denn erst wenn Putin begreift, dass er nicht gewinnen kann, wird er ernsthaft verhandeln.

Christoph Heusgen, Botschafter und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC).
Christoph Heusgen, Botschafter und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). © dpa | Kay Nietfeld

Die AfD, aber auch die Sahra-Wagenknecht-Partei propagieren eine andere Logik. Sie sagen, je weniger Waffen geliefert werden, desto schneller endet der Krieg.

Das ist nicht logisch, das ist zynisch. Damit überließen wir ein souveränes Land einem imperialistischen Aggressor, der sich dann ermutigt fühlte, zum Beispiel Moldau oder Georgien anzugreifen und das Baltikum zu destabilisieren. Putin sieht sich inzwischen ganz offen in der Tradition von Stalin, der 1939 parallel zu Hitlerdeutschland Polen angriff und sich danach das Baltikum einverleibte.

Immer mehr Leute scheint das nicht zu interessieren. Sie sagen, dass die Ukraine Kleinrussland sei und der Krieg uns nichts angeht.

Auch ich nehme wahr, dass diese Art von Stimmen zunehmen. Und sie werden von populistischen und extremistischen Parteien wie der AfD bedient. Doch die Mehrheit der Bevölkerung weiß, dass dies keine Option ist. Wenn die Ukraine verliert, ist niemand mehr in Europa sicher.

Aber arbeitet die Zeit nicht klar für Putin? Er macht an der Front Fortschritte, Europa zerstreitet sich, in den USA blockiert der Kongress Gelder, während Trump wieder nach der Präsidentschaft greift.

Es hilft der Ukraine tatsächlich nicht, dass der Westen zurzeit kein geschlossenes Bild abgibt.

Wladimir Putin sehe sich in der Tradition von Stalin, sagt Heusgen.
Wladimir Putin sehe sich in der Tradition von Stalin, sagt Heusgen. © AFP | Valery Sharifulin

Das ist jetzt die Antwort eines Diplomaten.

Nein, das ist meine ehrliche Antwort. Aber ich formuliere es gerne deutlicher: Natürlich ist es schlecht, dass sich Deutschland und Frankreich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen können. Und natürlich ist es beängstigend, wie Trump und seine Anhänger die Solidarität mit der Ukraine und im Rahmen der Nato hinterfragen. Es wäre schlimm, wenn sich die USA aus der Allianz für die Ukraine verabschiedeten.

Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, kennen Sie wahrscheinlich: Hat nicht die Nato mit der Osterweiterung den russischen Angriff provoziert?

Ein ganz klares Nein. Als 2004 die zweite Runde der osteuropäischen Staaten in die Nato aufgenommen wurde, hat Putin dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder versichert, dass dies gar kein Problem darstelle. Später, im Jahr 2008, war es Angela Merkel, die als deutsche Kanzlerin ein Veto gegen Nato-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Georgien einlegte. Das Thema kam danach nie wieder auf die Tagesordnung – bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine 2022.

Und noch später hat Merkel das Minsk-Abkommen verhandelt. Sie nannten es jetzt als Vorbild für Verhandlungen mit Russland …

… und bin dafür kritisiert worden. Dennoch bleibe ich dabei: Das Abkommen hatte viele Elemente – vom Waffenstillstand über den Rückzug schwerer Waffen zur Stationierung von Beobachtern bis zu freien Wahlen –, die wieder aufgerufen werden können.

Mehr Reportagen von Kriegsreporter Jan Jessen

Minsk ist gescheitert.

Ja, aber das ändert nichts daran, dass es kluge Bestimmungen enthielt. Natürlich müssen wir auch die Lehren aus diesem und anderen Abkommen ziehen, und zwar, dass ein Putin sich nicht an Abmachungen hält. Das heißt: Wenn es zu Verhandlungen und einem Friedensschluss kommt, müssen wir der Ukraine mit robusten Sicherheitsgarantien – im besten Fall in Form einer Nato-Mitgliedschaft – den Rücken stärken.

Sie reden vom Verhandeln. Der französische Präsident Macron spricht von europäischen Bodentruppen in der Ukraine …

… wofür er ja auch in seinem eigenen Land kritisiert wurde. Und für Deutschland hat der Bundeskanzler deutlich gesagt, dass das nicht stattfinden wird.

Aber warum dann Macrons Vorstoß?

Vielleicht, weil es der Logik der Abschreckung entspricht: Wer sich alle Optionen offenlässt, wird ernster genommen. Doch wenn Macron das erreichen wollte, so ist das nach hinten losgegangen, weil sein Vorstoß direkt von vielen anderen Verbündeten zurückgewiesen wurde. Umso wichtiger ist, dass Deutschland und Frankreich wieder an einem Strang ziehen – und das am besten gemeinsam mit Polen.

Frankreich/Deutschland/Polen: Sie meinen, das sogenannte Weimarer Dreieck soll es richten?

Warum nicht? Die neue polnische Regierung sucht endlich wieder den Schulterschluss mit Deutschland. Das ist doch immerhin ein Grund für Optimismus.