Wie sich gesunde Ernährung zwischen Gewissen und Realität abspielt. Und wie der Einzelne die Ernährungswende mitgestalten kann.

Die sich wandelnde Esskultur offenbart sich allerorts täglich im Einkaufswagen. Wer etwas auf seine Ernährung gibt, hat beim Einkauf nur noch im Wagen liegen, was als gesund und ethisch-moralisch gilt. Keinesfalls mehr Fast Food oder Fertiggerichte, weil hochverarbeitet und wegen Zusatzstoffen gesundheitlich bedenklich. Obst und Gemüse aus fernen Ländern sind wegen der hohen CO2-Bilanz zu meiden. Fleisch am besten auch nicht mehr und wenn dann nicht aus der Massentierhaltung, sondern wenigstens in Bio-Qualität. So fährt im Einkaufswagen das Gewissen immer mit und das, was an der Kasse ankommt, wird zum Statussymbol. Ein Blick auf den Einkauf offenbart, wer zu den ignoranten, unwissenden oder schwachen Verbrauchern und wer zu den gebildeten und verantwortungsbewussten Verbrauchern zählt. Oder in vielen Fällen auch: Wer sich sein Gewissen leisten kann und wer nicht.

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Gesunde Lebensmittel nur für volle Geldbeutel?

„Gesundheitsförderlich, umweltverträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich tragfähig – so sollte Ernährung von heute und morgen gestaltet sein. Nur so kann sie beitragen zur Lösung zahlreicher Problemlagen, die mit Ernährung im Zusammenhang stehen“ heißt es beim Max-Rubner-Institut, der Forschungs- und Beratungseinrichtung des Bundes im Bereich Ernährung und Lebensmittel. Ganz schön viel Verantwortung, die der Verbraucher da für sich selbst und gleich den ganzen Planeten übernimmt. Aber, dass unsere Ernährungsweise etwas mit den Klimafolgen zu tun hat, das wissen und beachten bereits viele Menschen. Rund 74 Prozent der Verbraucher würden Wert darauf legen, dass ein Lebensmittel umwelt- und ressourcenschonend produziert wurde, sagt der Trendreport 2023 des Bundeslandwirtschaftsministeriums. „Konsumenten und Konsumentinnen halten zwar bei der Wahl ihrer Lebensmittel Kriterien für nachhaltige und soziale Gerechtigkeit hoch“ sagt hingegen Hanni Rützler vom Zukunftsinstitut, „aber die alltägliche Einkaufspraxis sieht dann oftmals doch ganz anders aus. Da diktieren Preis und Bequemlichkeit sowie das vorhandene Angebot im Supermarkt die Auswahl der Lebensmittel.“

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Also wird die Wahl gesunder Lebensmittel durch den Geldbeutel bestimmt? Schließlich sind Nahrungsmittel seit 2022 um 7,5 Prozent teurer geworden, zudem gelten immerhin 16,1 Prozent der Deutschen als armutsgefährdet. „Die fehlende Preisregulierung seitens des Staates sind Hauptgründe, warum Einkommensschwache häufig zu hochkalorischen, ungesunden Fertigprodukten greifen. Denn diese sind in den meisten Fällen sehr viel billiger als unverarbeitete, frische Lebensmittel“, sagt Dr. Matthias Riedel, Diabetologe und Internist. Folglich seien Millionen Menschen dank der modernen Ernährung überernährt und gleichzeitig mangelversorgt in einem der reichsten Länder der Welt.

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„Wir leben in einer ernährungsfeindlichen Umgebung“

In Deutschland tragen hochverarbeitete Lebensmittel etwa zur Hälfte zur gesamten Energiezufuhr bei. Doch erstaunlicherweise auch insbesondere in Ländern mit hohem Einkommen dominieren industriell hochverarbeitete Produkte, sogenannte UPFs (engl. ultra-processed foods). Das sind verzehrfertige Produkte, die durch Kombination von lebensmittelbasierten oder synthetischen Zutaten in industriellen Prozessen hergestellt werden. Künstliche Zusatzstoffe, gesättigte und Trans-Fettsäuren, zugesetztes Salz und Zuckerstoffe, Aromen und Geschmacksverstärker aber gelten mittlerweile als Mitverursacher von ernährungsbedingten Krankheiten, wie Typ2-Diabetes und Adipositas. Auch Herz-Kreislauf-Stoffwechselkrankheiten und sogar Krebs soll eine unausgewogene Ernährung mit vorwiegend UPFs begünstigen. „Wir leben in einer ernährungsfeindlichen Umgebung. 80 Prozent von dem, was im Regal steht, ist ungesund. 80 Prozent der Produkte sind überzuckert, und in Fertiggerichten dürfen 300 in der EU zugelassene Zusatzstoffe verarbeitet werden.“

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Bildung und Einkommen beeinflussen Ernährungskompetenz

Daran muss sich dringend etwas ändern – darüber sind sich viele Experten einig: „Noch nie wussten wir so viel über gesunde Ernährung, und gleichzeitig haben wir uns noch nie so schlecht ernährt. Infolgedessen werden wir immer dicker und kränker, und die Lebenserwartung der Deutschen liegt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer auf den letzten Plätzen“, sagt Riedl, der auch Autor zahlreicher Ratgeber und Kochbücher ist. In seinem Buch „Unser Essen: Killer Heiler“ schreibt Riedl der Politik eine Hauptschuld für die Misere zu: „Die Regierung hätte die Möglichkeit, über Gesetze und Vorgaben Einfluss zu nehmen – zum Beispiel über eine Lenkungssteuer sowie eine nationale Strategie für Chancengerechtigkeit beim Essen – und so die miserable Ernährungssituation hierzulande zumindest im Ansatz zu bessern. Stattdessen wälzen die meisten Politiker die Verantwortung für ein gesundes Essverhalten auf den einzelnen Bürger ab.“ Diese verfügen aber anscheinend nicht über die nötige Ernährungskompetenz. Eine bundesweite Untersuchung hierzu (AOK für das Bundeszentrum für Ernährung) offenbarte 2020, dass es rund 72 Prozent der Befragten an der Fähigkeit fehle, aus der Angebotsvielfalt bei Lebensmitteln die richtige Wahl zu treffen. Ein weiteres Ergebnis: Bildung und Einkommen hängen eng mit der Ernährungskompetenz zusammen.

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Lebensmittel in natürlicher Form bevorzugen

Der neue Bürgerrat, den die Bundesregierung ins Leben gerufen hat, soll mithelfen, das Dilemma zu lösen. In den nächsten Monaten dürfen 160 Bürgerinnen und Bürger zur Frage: ,Was erwarten sie in der Ernährungspolitik vom Staat und wo soll er aktiv werden?’ ein Gutachten erstellen. „Bis sich aber im Großen etwas ändert, wird die Verantwortung noch für viele Jahre beim Einzelnen selbst liegen“, sagt Riedl. Er empfiehlt daher, so wenig ultraverarbeitete Nahrungsmittel wie möglich zu konsumieren: „Lebensmittel, die aus mehr als fünf Zutaten bestehen, sind in der Regel bedenklich. Geben Sie der Lebensmittelindustrie keine Möglichkeit, Sie krank zu machen.“ Es ginge darum, die Nahrung wieder in möglichst natürlicher Form aufzunehmen, denn welchen Einfluss mangelhafte Ernährung auf die Gesundheit nimmt, das erlebe er täglich in seiner Praxis. Mit welcher Ernährung die Gesundheit des Einzelnen und der Erde gleichermaßen geschützt werden kann, das hat schon 2019 die EAT-Lancet-Kommission, bestehend aus 37 Wissenschaftlern aus 16 Ländern, erarbeitet. Das Ziel war, eine wissenschaftliche Grundlage für einen Wandel des globalen Ernährungssystems zu schaffen. Herausgekommen ist die sogenannte Planetary Health Diet. Um einer ressourcenschonenden und gesunden Ernährung gerecht zu werden, müsste der Konsum von Obst und Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen ungefähr verdoppelt werden, der Verzehr von Fleisch und Zucker dagegen halbiert. Die Forscher schätzen, dass die „Planetary Health Diet“ ungefähr 11 Millionen vorzeitige Todesfälle durch ernährungsbedingte Erkrankungen verhindern könnte.

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Buchtipp: Dr. med. Matthias Riedl, Unser Essen - Killer und Heiler. Wie wir etwas gegen die Katastrophe auf unseren Tellern tun können, Preis: 22 €, ISBN: 978-3-8338-8303-3

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