Berlin. Die russischen Streitkräfte schicken immer mehr T-55-Uralt-Panzer ins Gefecht. Eine Verzweiflungstat? Putins Kalkül ist ein anderes.
Militärexperten reiben sich verwundert die Augen. In einem kürzlich ausgestrahlten Beitrag des russischen Staatssenders „Zvezda“ ist die 810. Garde-Marineinfanterie-Brigade im Einsatz nahe der Stadt Cherson im Süden der zu sehen. Für Erstaunen sorgen dabei Bilder von T-55-Panzern an der Frontlinie – das Modell gilt als völlig veraltet, wurde es doch bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt.
Gegen moderne Panzer kann der T-55 mit vergleichsweise schlappen 560 PS und seiner Kanone Kaliber 100 Millimeter kaum etwas ausrichten. Eine moderne Kompositpanzerung lässt sich damit nicht durchdringen. Zudem ist ein T-55 nicht gerade flott unterwegs, erreicht im Gelände maximal 25 km/h. Auf der Straße ist der Panzer-Methusalem mit 50 km/h Höchstgeschwindigkeit gerade einmal so schnell wie ein 50 ccm-Roller.
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T-55 als Duellpanzer im Kampfeinsatz nicht geeignet
Was also bezweckt die russische Militärführung mit dem Einsatz eines Panzer-Oldies, der bereits 1968 bei der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ seinen Dienst leistete und bis vor Kurzem in Armeeschuppen vor sich hin rostete? Als Duellpanzer ist der T-55 schon einmal nicht geeignet.
Die Bilder des russischen Staatsfernsehens zeigen ein notdürftig montiertes Käfigdach auf dem Panzer. Es soll wenigstens etwas Schutz gegen feindliche Drohnen bieten – eine trügerische Hoffnung, wie Videos des ukrainischen Militärs zeigen. Auf einem ist zu sehen, wie eine Kamikazedrohne mühelos die Panzerung eines T-55 durchschlägt und das Gefährt mutmaßlich komplett zerstört.
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Russische Armee setzt T-55 als Sturmgeschütz ein
Die 810. Marineinfanterie-Brigade, die den T-55 einsetzt, soll laut einem Bericht des US-Magazins „Forbes“ zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine noch über die weit moderneren T-80 verfügt haben. Diese seien aber bei den Kämpfen fast alle vernichtet worden, heißt es. Die frühere Eliteeinheit ist nach schweren Verlusten neu aufgestellt worden.
Der ukrainische Generalstab hatte im September 2022 gemeldet, dass die Brigade 85 Prozent ihres Personals verloren habe. Ihr Kommandant, Oberst Alexej Scharow, sei bei der Belagerung Mariupols gefallen. Im Anschluss sei es zu Meutereien gekommen. Soldaten sollen sich geweigert haben, in den Kampf zu ziehen.
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Die T-55 erfüllen nunmehr eine recht ungewöhnliche Aufgabe. Sie werden beispielsweise von der 810. Marineinfanterie-Brigade als mobiles Sturmgeschütz eingesetzt. Wie „Forbes“ berichtet, ragt die Kanone dabei steil in die Luft und feuert Geschosse mit einer Reichweite von bis zu 15 Kilometern ab. Für schnelles Artilleriefeuer sei das dünne Kanonenrohr jedoch nicht ausgelegt, heißt es weiter.
Dennoch scheinen Putins Streitkräfte auf den T-55 als Sturmgeschütz angewiesen zu sein. Nach Beobachtungen unabhängiger Analysten zeigten Satellitenbilder hohe Verluste bei der russischen Artillerie. Die Bestände von Artilleriegeschützen in den Lagern hätten sich mittlerweile halbiert.
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