Region Donezk/Ukraine. Oleh kämpft seit Monaten in der Ukraine. Der Krieg hat ihn gebrochen. Er kann nicht mehr weiterkämpfen – doch er muss. Ein Frontbesuch.
Eigentlich braucht Oleh eine Behandlung. Dringend. Der Krieg hat sich tief in sein aschfahles Gesicht eingegraben, es ist hagerer geworden, der Bart länger, struppiger. Seine Augen sind müde, er schaut oft ins Nichts. Er hat immer wieder dem Funkverkehr der eigenen Infanterie zugehört, die er mit seinem Schützenpanzer im Gemetzel an der Front bei Awdijiwka absetzt. Was über den Funk reinkommt, hat ihn krank gemacht. Die verzweifelten Rufe nach Hilfe für die Verwundeten. Die Meldungen über die Toten. Er weiß: „Ich habe psychische Probleme.“ Oleh, 25, kann nicht mehr. Er muss aber weiterkämpfen.
Im Krieg in der Ukraine, der nun beinahe zwei Jahre andauert, hat sich die militärische Lage seit dem Herbst zugunsten der russischen Invasoren verändert. Bei ihrer Gegenoffensive ab dem vergangenen Sommer konnten die nur taktische Erfolge erzielen. Jetzt drückt die russische Armee seit Monaten an allen Frontabschnitten. Besonders verlustreich sind die Kämpfe um Awdijiwka – eine Industriestadt in der Region Donezk, die nur noch eine Ruinenlandschaft ist. In den vergangenen Tagen ist es den Russen gelungen, in den Norden und den Süden der Stadt einzudringen.
Die 47. motorisierte Brigade ist seit Oktober nördlich von Awdijiwka eingesetzt. Vorher haben die Soldaten dieser Einheit im Süden an der Saporischschja-Front gekämpft. Am 23. August können sie die ukrainische Fahne über dem zuvor russisch besetzten Dorf Robotyne hissen. Im September treffen wir einige der Männer der 47. Brigade in einem Waldstück nicht weit entfernt von dem Dorf, sie ruhen sich in einem Feldlager von den Gefechten aus. Sie sind erschöpft und ausgelaugt.
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Ukraine-Krieg: Oleh hat sich freiwillig zum Dienst in der Armee gemeldet
Unter ihnen ist auch Oleh, Richtschütze in einem Bradley-Panzer, ein junger Mann mit Kosakenzopf, der sich freiwillig zum Dienst in der Armee gemeldet hat. Zwei Monate zuvor ist der Fahrer seines Schützenpanzers von einer russischen Rakete getötet worden, es war ein traumatisches Erlebnis für den 25-Jährigen. Trotzdem stieg er wieder in den Bradley. Er sagt, die neue Panzerung seines Fahrzeuges gebe ihm mentalen und körperlichen Schutz.
Falschen Vorstellungen gibt er sich schon im September nicht hin. Die Fortschritte bei der Gegenoffensive seien sehr langsam. „Es ist härter geworden als erwartet. Und es ging nicht so schnell, wir gedacht haben“, sagt der 25-Jährige. Über ihre Toten reden sie möglichst wenig. Es schien im Spätsommer, als habe Oleh sich selbst mit einer Panzerung umgeben, um seine geistige Gesundheit zu bewahren.
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Ende Januar treffen wir Oleh in einer Siedlung westlich von Awdijiwka wieder. Es ist ein kalter Wintertag, das dumpfe Wummern der Artillerie ist in der Ferne zu hören. In einem kleinen Waldstück steht ein Bradley, der gerade nicht für den Kampfeinsatz gebraucht wird. Plötzlich fährt ein schlammverschmierter Renault Kangoo vor. Drei Männer steigen aus dem Kastenwagen. Einer von ihnen ist Oleh. Er sieht aus, als sei er um Jahre gealtert. Seine mentale Panzerung scheint zerstört.
Oleh: „Ich kann nicht gehen, weil ich nicht ersetzt werden kann“
Als sie im Oktober von der Saporischschja-Front an die nördliche Flanke von Awdijiwka verlegt werden, um die russische Offensive aufzuhalten, geraten sie in eine Situation, die sie als Hölle empfinden. Sie verlieren viele Soldaten, vor allem kampferprobte Infanteristen. Danach gelingt es ihnen, ihre Defensivstellungen auszubauen. Aber sie haben es jetzt mit einem anderen Gegner zu tun. „Es ist eine starke Panzerdivision hereingekommen, außerdem sehr gut ausgebildete Drohnenpiloten. Die greifen uns Tag und Nacht an. Das macht uns sehr zu schaffen.“
Wegen der ständigen Drohnenattacken sei es kaum noch möglich, mit den Schützenpanzern an die Front zu kommen, um die Infanteristen abzusetzen, erzählt Oleh. Sie haben viele ihrer Fahrzeuge verloren, die Männer, die als Ersatz für die getöteten Soldaten gekommen sind, seien nicht sehr gut ausbildet und weniger motiviert. „Im Großen und Ganzen haben wir es bislang geschafft, unsere Linien zu halten. Wie lange wir das noch schaffen, weiß ich nicht.“ Oleh weiß, dass er wegen seiner psychischen Probleme eigentlich nicht mehr kampffähig ist und dringend eine Pause braucht. „Ich kann aber nicht gehen, weil ich nicht ersetzt werden kann.“
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Robotyne, das Dorf, in dem Olehs 47. Brigade im August die ukrainische Fahne hisste, ist jetzt ebenfalls Schauplatz erbitterter Gefechte. Nicht weit von Robotyne entfernt haben Mychajlo und seine Männer in einem anderen Dorf eine Ruheposition bezogen. Ihr Quartier ist ein altes Bauernhaus. Auf Feldbetten liegen Schlafsäcke, an den Wänden lehnen ihre Waffen, darunter schwere Browning-Maschinengewehre. Mychajlo, Funkname „Saigon“, sitzt auf einer der Pritschen, an der Wand hinter ihm sind Kinderzeichnungen aufgehängt. Der 33-Jährige ist der Kommandeur einer Kompanie der 65. Brigade. Er und seine Soldaten verteidigen die schwierigste Position an diesem Frontabschnitt.
Mychajlo: „Sie schicken Leute, die kaum ausgebildet sind“
Sie sind bei Nowoprokopiwka eingesetzt, einem Dorf südlich von Robotyne. Nowoprokopiwka ist von den Russen besetzt. Von dort aus stürmen sie immer wieder gegen die ukrainischen Stellungen an, ohne Rücksicht auf Verluste. „Sie schicken Strafgefangene und Leute, die kaum ausgebildet sind, in unser Feuer. Erst wenn unsere Waffen klemmen oder wir keine Munition mehr haben, kommen die Professionellen. Es ist für sie ein Fleischwolf“, berichtet Mychajlo. Der Kompanie-Kommandeur fährt sich immer wieder durchs Gesicht, durch die Haare, zuckt, rutscht nervös auf dem Feldbett herum. Der Krieg hat offensichtlich auch bei ihm tiefe Spuren hinterlassen.
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Mychajlo ist seit zehn Jahren in der Armee. Nach dem russischen Überfall hat er die Schlachten von Bachmut und Lyssytschansk miterlebt. „Bachmut war der Ort, an dem ich Seen aus Tränen und Blut gesehen habe.“ Er klagt wie alle anderen Soldaten, mit denen man in diesen Tagen an der Front spricht, über den Mangel an gepanzerten Fahrzeugen, an Munition, an Soldaten – und er ist wütend auf die Regierung. „Wenn ich sehe, wofür jetzt noch Geld ausgegeben wird, um Straßen chic zu machen oder um Trommeln für Kindergärten zu kaufen, frage ich mich, ob das ein Zirkus oder ein Krieg ist.“
Der Kompanie-Chef zeigt auf die Kinderzeichnungen hinter sich, dann auf einen jungen Soldaten. „Das ist hier die ganze Entwicklung. Als ich 2014 gekämpft habe, hat mein Zugführer solche Bilder gemalt, da war er in der 5. Klasse.“ Oleksandr ist der jüngste Zugführer der Brigade. Er ist 21 Jahre alt, das Durchschnittsalter in der 65. Brigade liegt bei 47 Jahren. Unter seinen Augen sind schwarze Ringe. Er lächelt oft. „Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil ich Rache nehmen will.“
Nach der Invasion erobern die Russen sein Dorf Yahidne im Norden der Ukraine. „Ich habe viele wertvolle Dinge verloren. Mein Haus, mein Motorrad, meine Hunde und meine Pläne für die Zukunft.“ Vor Kurzem haben die Russen bei Nowoprokopiwka einige „unserer Jungs“ gefangengenommen, erzählt der Kompanie-Chef. Seine Einheit hat nur noch ein Drittel der eigentlichen Mannstärke. „Aber noch haben wir hier keine Positionen verloren.“
Update: Der junge Richtschütze Oleh ist im Krieg gefallen. Die Nachricht seines Todes erreichte unsere Redaktion am 1. März 2024. Oleh wurde 25 Jahre alt.
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