Berlin. Militärexperte Carlo Masala warnt vor einer Rückkehr von Donald Trump – und sagt, was seine größte Sorge für das Jahr 2024 ist.

Krieg in der Ukraine, Krieg in Israel und dem Gazastreifen, Chinas Drohungen gegen Taiwan – was geschieht im neuen Jahr? Beim Besuch in unserer Redaktion blickt Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr in München, nicht allzu optimistisch in die Zukunft.

Professor Masala, bringt das Jahr 2024 den nächsten Krieg – nämlich die Invasion Chinas in Taiwan?

Carlo Masala: Ich glaube nicht, dass das ein realistisches Szenario ist.

Warum nicht? Die Aufmerksamkeit des Westens richtet sich auf die Ukraine und den Nahen Osten. Und in den USA, der Schutzmacht Taiwans, wird im November ein neuer Präsident gewählt.

Die Regierung von Joe Biden wird noch das gesamte Jahr über im Amt sein und lässt auch keinen Zweifel daran, dass sie zu den Sicherheitsgarantien für Taiwan steht. Und was China betrifft: Präsident Xi Jinping bemüht sich sichtlich um eine Entspannung im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Gerade erst gab es ein Treffen der beiden Staatschefs in San Francisco. Meine These ist, dass China versucht, über Wahlen seine Position in Taiwan zu stärken. Ich bin mir auch nicht sicher, ob China Taiwan wirklich angreifen müsste, um dort seine Interessen durchzusetzen.

Was könnte Peking stattdessen tun?

Abriegeln. Wir haben im vergangenen Jahr mehrere Manöver des chinesischen Militärs nahe Taiwan gesehen. Wenn keine Waren mehr nach Taiwan herein- und auch keine mehr herauskämen, zum Beispiel Microchips, dann würde das den kleinen Inselstaat in die Knie zwingen. Das hätte auch erhebliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, was sich China zunutze machen könnte. Vielleich wäre aus Pekinger Sicht eine Blockade Taiwans sogar sinnvoller als eine Invasion.

Und Taiwan würde in dieser Situation bereit sein, sich der Volksrepublik anzuschließen?

Das vermutlich nicht. Aber unter Umständen könnten die Vereinigten Staaten einlenken und bereit sein, eine Art großen Deal mit China über Einflusszonen im gesamten asiatischen Raum abzuschließen. Sollten die USA in diesem Rahmen von ihrer Zusage abrücken, Taiwan gegebenenfalls unter Nutzung militärischer Mittel zu verteidigen, dann ist aus chinesischer Sicht der Weg zu einer Einverleibung Taiwans geebnet.

Was könnten die USA unter einem Präsidenten Biden tun, wenn sie sich einer chinesischen Blockade Taiwans entgegenstellen wollten?

Sie könnten versuchen, diese mit ihrer 7. Flotte zu durchbrechen. Das würde auf einen Showdown hinauslaufen – in etwa vergleichbar mit der Kuba-Krise zwischen den USA und der Sowjetunion 1962. Die Vereinigten Staaten verfügen auch über wirkungsvolle Hebel in der Region, um politischen Druck auf Peking auszuüben – insbesondere über die Verbündeten Japan und Südkorea. Innenpolitisch wäre der Unterschied zu anderen Konflikten, insbesondere zum Ukraine-Krieg, dass es in den USA mit Blick auf China immer noch einen überparteilichen Konsens gibt. Demokraten wie Republikaner betrachten die Volkrepublik als größte Herausforderung für die USA.

Ex-Präsident Donald Trump könnte im Falle einer Wiederwahl zum Problem für Europa werden.
Ex-Präsident Donald Trump könnte im Falle einer Wiederwahl zum Problem für Europa werden. © AFP | Timothy A. Clary

An welchem Punkt könnte Peking zu der Einschätzung gelangen, dass die USA schwach sind?

Der Punkt könnte erreicht sein, wenn China militärisch in Asien stärker geworden ist als die Vereinigten Staaten. Oder dann, wenn es den Eindruck gewinnt, dass sich die USA nicht mehr überall in der Welt engagieren wollen. Das könnte etwa der Fall sein, wenn die Unterstützung für die Ukraine versiegen sollte oder es einen offenen Konflikt zwischen Washington und Israel gibt, womöglich sogar in der heißen Phase des US-Wahlkampfs. Der Punkt könnte auch erreicht sein, wenn sich klar abzeichnet, dass Joe Biden die Wahl verlieren und der nächste Präsident Donald Trump heißen wird.

Gehen Sie davon aus, dass Trump gewinnt? Bereitet sich die Bundesregierung ausreichend auf die Möglichkeit vor, dass Trump ins Weiße Haus zurückkehren und dieses Mal wirklich die Nato in die Luft sprengen könnte?

Hinter verschlossenen Türen wird es sicherlich Diskussionen über dieses Szenario geben. Ich sehe aber weder bei der Bundesregierung noch beim Rest Europas eine ernsthafte Vorbereitung darauf. Vermutlich haben wir den richtigen Zeitpunkt auch schon verpasst.

Was müsste geschehen?

Wir brauchen in Europa einen strategischen Prozess mit dem Ziel, die Sicherheit des Kontinents unter völlig veränderten Vorzeichen selbst gewährleisten zu können. Trump würde den europäischen Nato-Staaten vermutlich sagen: Ihr müsst jetzt viel mehr Geld ausgeben, sonst entziehen wir Euch den Schutz. Und da reden wir nicht mehr von zwei Prozent der jeweiligen Wirtschaftsleistung, sondern von deutlich mehr. Oder Trump würde den Austritt der USA aus internationalen Organisationen betreiben und das Engagement der Vereinigten Staaten in der Nato reduzieren.

Mit welchen Folgen?

Sollte ein wiedergewählter Präsident Trump auch nur verbal den Eindruck erwecken, dass Europa nicht mehr unter dem Schutz des amerikanischen Nuklearschirms steht, dann hätten wir hier auf dem Kontinent sofort eine radikal veränderte Sicherheitslage.

Braucht Europa eine eigene nukleare Abschreckung?

Ich meine ja. Wenn die Amerikaner keinen Schutz mehr garantieren, brauchen wir einen europäischen Nuklearschirm. Ich würde sogar noch weiter gehen: Unabhängig vom Ausgang der US-Wahl ist klar, dass nach dem Ukraine-Krieg Europa die Hauptverantwortung für die Eindämmung Russlands tragen wird. Die Vereinigten Staaten werden dazu auch unter einem wiedergewählten Präsidenten Biden nicht bereit sein. Wahrscheinlich wäre dieser Prozess unter Biden längerfristig und eher konsensuell, unter Trump hingegen abrupt. Auf beides müssen sich die Europäer unbedingt vorbereiten. Stattdessen sitzen sie wie die Kaninchen vor der Schlange und hoffen, dass die Sache schon irgendwie gut ausgeht.

Ist es denkbar, dass eine neue Trump-Regierung nur noch dazu bereit wäre, ausgewählte Teile der Nato gegen Putins Russland zu verteidigen?

Trump würde wahrscheinlich nur noch bilaterale Sicherheitsgarantien geben, aber keine mehr über das Bündnis. Unter amerikanischem Schutz stünden dann nur noch jene Staaten, die seinen Forderungen nachkommen – etwa mit Blick auf die Verteidigungsausgaben. Polen hat sich in der Vergangenheit intensiv bemüht, die USA auch bilateral an sich zu binden. Das Gleiche ließe sich mit Rumänien machen oder mit Bulgarien oder eben mit dem Baltikum. Diejenigen europäischen Staaten, die nicht mitmachen, stünden dann ohne amerikanische Sicherheitsgarantien da. Im Grunde wäre das Erpressung.

Wie könnte ein europäischer Nuklear-Schirm aussehen? Die Franzosen werden ihre „Force de frappe“ kaum der Europäischen Union überlassen.

Das sehe ich auch nicht. Es wird keinen Atomkoffer geben, der in Brüssel lagert oder zwischen den europäischen Hauptstädten hin- und herwandert. Entsprechende Forderungen sind Blödsinn. Aber ja: Das ist die härteste Nuss, die es zu knacken gilt.

Professor Masala erklärt den Krieg

Was raten Sie?

Man sollte darüber nachdenken und die Fühler ausstrecken, inwieweit Frankreich ein Interesse daran hat, dass seine nationale Atomstreitmacht auch aus anderem Geld bezahlt wird. Frankreichs Nuklearstrategie ist bislang rein national. Vielleicht gelingt es, diese dahingehend zu verändern, dass Frankreich unter bestimmten Umständen auch bereit wäre, europäische Nachbarstaaten mit seinen Atomwaffen zu verteidigen.

Also eine nukleare Teilhabe per Scheckbuch?

Sozusagen. Und die ließe sich zum Beispiel dadurch unterfüttern, dass Soldaten anderer europäischer Länder regelmäßig mit den Spezialisten der französischen Atomstreitkräfte üben. Ich würde übrigens immer dafür plädieren, auch die zweite europäische Atommacht Großbritannien mit an Bord zu holen. Die gehört zwar nicht mehr der Europäischen Union an. Aber für Länder wie Polen oder Rumänien dürfte die Vorstellung, allein vom französischen Atomschirm abzuhängen, inakzeptabel sein.

Was ist Ihre größte Sorge mit Blick auf 2024?

Meine größte Sorge ist, dass es uns nicht gelingt, eine dauerhafte Unterstützung der Ukraine zu garantieren. In diesem Fall würde sich der Aggressor Russland durchsetzen. Ein russischer Sieg würde Europas Sicherheit nachhaltig destabilisieren – außenpolitisch wie innenpolitisch.

Warum auch innenpolitisch?

Weil ein russischer Sieg all denjenigen Kräften in Europa und Deutschland Auftrieb verleihen würde, die von vornherein gegen eine Unterstützung der Ukraine waren. Die können sich dann mit breiter Brust hinstellen und sagen: Seht her, wir haben doch immer gewusst, dass das alles Quatsch war.

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