Karlsruhe/Ruhrgebiet. Ermittler haben sieben Terrorverdächtige in Nordrhein-Westfalen festgenommen. NRW-Innenminister Herbert Reul sagt, NRW stehe weiter im Fokus.

"Heute Morgen haben die Sicherheitsbehörden des Bundes und auch unseres Bundeslandes NRW eine mutmaßliche Terrorzelle zerschlagen", bestätigte Herbert Reul (CDU) am Donnerstag. In den den frühen Morgenstunden liefen in NRW, in Niedersachsen und in den Niederlanden umfangreiche Razzien gegen ein zentralasiatisches Terrornetzwerk.

Sieben mutmaßlichen Islamisten wurden festgenommen. Alle sieben sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Wie die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe am Freitag mitteilte, wurden die Haftbefehle gegen die Männer aus Tadschikistan, Kirgistan und Turkmenistan in Vollzug gesetzt.

Sie sollen eine Terrorzelle in Deutschland gegründet haben. "Die Beschuldigten stehen im Verdacht, Anschläge in Deutschland geplant und den Islamischen Staat mit Geld versorgt zu haben", so NRW-Innenminister Reul. Drei weitere Beschuldigte sollen an diesem Freitag dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe vorgeführt werden.

Auch mit Blick auf den Anti-Terror-Einsatz in Castrop-Rauxel im Januar und den Messerangriff im April Duisburg sagte Reul: "NRW steht weiter im Fokus des islamistischen Terrorismus. Eine 100-prozentige Sicherheit kann und wird es nie geben." Die Sicherheitsbehörden seien allerdings jederzeit wachsam.

Medienbericht: Verdächtige sollen Anschläge geplant haben

Die festgenommenen Terrorverdächtigen sollen Anschlagsziele in Berlin, Hamburg und Dresden ausgekundschaftet haben. Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Freitagsausgabe) unter Berufung auf Ermittlerkreise berichtet, sollen die mutmaßlichen Mitglieder einer islamistischen terroristischen Vereinigung Fotos von Objekten in den drei Städten gemacht haben.

Dem Medienbericht zufolge hätten die verdächtigen Männer eine ganze Anschlagsserie geplant. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wollte diese Angaben zunächst nicht bestätigen. Der Tipp zu der mutmaßlichen terroristischen Vereinigung kam dem Bericht zufolge vom niederländischen Geheimdienst.

15 Objekte in NRW durchsucht: Elektronische Beweismittel sichergestellt

In NRW wurden insgesamt 15 Objekte durchsucht - in Bielefeld, Bornheim, Düsseldorf, Ennepetal, Gelsenkirchen, Gladbeck, Kamen, Lippstadt, Warendorf und Witten. Es seien elektronische Beweismittel sichergestellt worden. Waffen seien bisher nicht gefunden worden, sagte Reul. Ob es eine Liste von Anschlagspunkten gab, konnte er nicht beantworten. Über 200 Polizeikräfte des Bundes und der Länder sind im Einsatz, 90 davon aus NRW. Beteiligt seien Kräfte des Bundeskriminalamtes, der Bundespolizei, der Polizei Niedersachen, NRW und auch der niederländischen Behörden. Auch Eurojust, die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit und Straftaten sei eingebunden.

Zwei Personen wurden in den Niederlanden festgenommen. Auch hier werden Maßnahmen durchgeführt. In Deutschland waren alle Festnahmen in NRW. Die festgenommenen Männer seien zwischen 20 und 46 Jahre alt und sollen regelmäßig zwischen Deutschland und den Niederlanden hin- und hergereist sein. Alle sieben Personen seien als Gefährder oder relevante Personen eingestuft worden - zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

Eine mutmaßliche islamistische Terrorzelle ist aufgeflogen. In NRW werden Verdächtige festgenommen, weitere in den Niederlanden. Die in Deutschland Festgenommen wurden zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe gebracht.
Eine mutmaßliche islamistische Terrorzelle ist aufgeflogen. In NRW werden Verdächtige festgenommen, weitere in den Niederlanden. Die in Deutschland Festgenommen wurden zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe gebracht. © Thomas Kienzle (AFP)

"Daran sehen wir leider auch, unter der enorm großen Zahl an Schutzsuchenden, die vor Krieg fliehen und bei uns Obhut suchen, sind schwarze Schafe dabei", so Reul. "Die Anhänger des IS glaubten offenbar, bei uns ganz unbehelligt, ihr terroristisches Tagewerk nachgehen zu können, auskundschaften, Ziele suchen, Waffen und Geld beschaffen. Alles im Verborgenen. Aber nicht hier, nicht bei uns, nicht mit uns", betonte der NRW-Innenminister.

Kein Anlass zur Entwarnung: "Riesige Aufgabe", Terrorismus zu ersticken

Auch, wenn die Sicherheitsbehörden wachsam seien, gehöre zur Wahrheit, dass es eine "riesige Aufgabe" sei, den Terrorismus im Keim zu ersticken, sagte Reul. Der Verfassungsschutz habe im vergangenen Jahr 4070 Islamisten in NRW auf dem Schirm gehabt. Im Vergleich zum Vorjahr sei das ein Rückgang von zwölf Prozent. Die Zahl der gewaltbereiten Islamisten sei von 780 auf 600 Personen gesunken.

Was die Durchsuchungen und Festnahmen zeigen würden, "ist, dass dieser zahlenmäßige Rückgang aber keinen Anlass zur Entwarnung gibt", so Reul. Die Anzahl der als Gefährder eingestuften Personen in NRW (etwa 200 Personen) sei auf einem anhaltend gleichen Niveau. Der Fall zeigt, wie gefährlich die islamistische Gewalt noch immer ist – auch wenn das Netzwerk durch Kämpfe und Razzien erheblich geschwächt wurde.

Sicherheitsbehörden haben offenbar schon lange ermittelt

Von welcher Behörde die ersten Informationen kamen, konnte Reul nicht sagen. "Das ist nicht eine Geschichte, die gestern begonnen worden ist, sondern die schon länger läuft und die sehr viel Ermittlungsarbeit bedeutet", so der NRW-Innenminister. "Dann bildet sich da langsam erst ein Bild und dann gibt es irgendwann einen Zeitpunkt, wo der Generalbundesanwalt dann ja auch entschieden hat, jetzt ist es klug es zu tun, um sicherzugehen."

Die sieben festgenommenen Männer kommen ursprünglich aus Zentralasien, fünf von ihnen aus Tadschikistan, einer von ihnen ist Kirgise, ein anderer Turkmene. Auch in den Niederlanden nahm die Polizei ein tatverdächtiges Ehepaar fest: einen Mann aus Tadschikistan und dessen kirgisische Frau.

Doch in ihrer Heimat waren die mutmaßlichen Terroristen zuletzt nicht. Sie reisten laut Generalbundesanwalt im Frühjahr 2022 aus der Ukraine ein, kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs. Offenbar nutzten sie die Wirren und das Chaos dieser ersten Kriegswochen aus. Damals flohen Hunderttausende Menschen aus der Ukraine in die EU und auch nach Deutschland, vor allem über Polen reisten viele ein.

Mutmaßliche IS-Terroristen: Verdächtige sollen mögliche Anschlagsorte im Blick gehabt haben

Der Vereinigung habe auch einer der in den Niederlanden festgenommenen Männer angehört. Die Gruppe habe in Kontakt gestanden zu Mitgliedern des regionalen IS-Ablegers "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK). Mögliche Ziele von Anschlägen in Deutschland seien bereits ins Visier genommen und mögliche Tatorte ausgekundschaftet worden. Zudem hätten die Beschuldigten versucht, sich Waffen zu beschaffen. Einen konkreten Anschlagsplan habe es aber noch nicht gegeben. Sechs der in Deutschland gefassten Verdächtigen hätten seit April 2022 Geld für den IS gesammelt und in Ausland transferiert.

Die Beschuldigten sollten noch im Laufe des Donnerstags sowie an diesem Freitag dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe vorgeführt werden. Das Paar aus den Niederlanden sollte an diesem Freitag vor den Untersuchungsrichter in Rotterdam kommen.

Hintergrund: Wer ist der IS-Ableger „Islamischer Staat Provinz Khorasan“?

Die Terrorgruppe „Provinz Khorasan“ (ISPK/Wilayat Khorasan) wächst vor allem mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und ist „gegenwärtig der stärkste Ableger des Islamischen Staats (IS) weltweit“, halten die beiden Wissenschaftler Guido Steinberg und Aljoscha Albrecht in einer Analyse von Anfang 2022 für die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin fest. Immer wieder verübten die Terroristen dort zuletzt Attentate, etwa in der alten IS-Hochburg Nangarhar im Osten des Landes und in der Hauptstadt Kabul.

Gegründet hatte sich ISPK bereits 2014 im Irak und wurde vor allem ab 2016 in Afghanistan immer attraktiver für ausländische Dschihadisten. Dort konkurrierte der IS-Ableger zu den radikalislamischen Taliban. „In Afghanistan besteht der IS mehrheitlich aus Pakistanern, Afghanen SWP-Aktuell 8 Februar 2022 und Zentralasiaten“, schreiben die Terror-Experten der SWP. Doch schon 2017 und 2018 gab es Hinweise, dass sich Dschihadisten aus Europa, vor allem Frankreich, auf den Weg an den Hindukusch machten, um sich dort dem IS anzuschließen.

Und: Europa ist auch Terrorziel der Organisation. Im Frühjahr 2017 tötete ein Attentäter in Stockholm bei einem Anschlag fünf Menschen. Der Täter war Tadschike, hatte Kontakte zu einem Anführer des IS in Afghanistan. Und schon 2018 und 2019 hatten deutsche Ermittler Informationen über eine tadschikische Terrorzelle, die mit Kadern des „Islamischen Staates“ in Afghanistan in Kontakt gestanden hatte.

Warum wirkt der Terror in Zentralasien so stark?

Eine Woche vor der Bluttat in Stockholm 2017 zündete ein Attentäter Bomben in der U-Bahn in St. Petersburg. In der Silvesternacht erschoss ein Mann 39 Menschen in einem Nachtclub in Istanbul, im Sommer 2016 töteten Extremisten 43 Menschen am Flughafen von Istanbul. Alle Täter hatten – so wie die Zelle in Nordrhein-Westfalen jetzt – Verbindungen nach Zentralasien.

In den Jahren der Hochphase des IS-Terrors sind Fachleuten zufolge mehrere Tausend Kämpfer von Zentralasien nach Syrien und Irak ausgereist. Somit gehörten Länder wie Usbekistan und Kirgistan zu den wichtigen Einzugsgebieten des IS. Nicht alle Zentralasiaten zog es zum IS – vor allem Usbeken kämpfen dort auch für konkurrierende Al-Qaida-Ableger wie etwa der „Islamischen Bewegung Usbekistan“ (IBU).

Islamisten in Zentralasien oftmals schon kampferprobt

Vor allem für Kriminelle sind die Terrororganisationen eine neue Heimat. Etliche, die bei der IBU oder dem IS kämpften, waren nach Ende der Sowjetzeit in kriminellen Netzwerken in Zentralasien aktiv, handelten mit gestohlenen Waren, Drogen oder Waffen. Zugleich sind Islamisten in der Region oftmals schon kampferprobt, wuchsen in gewalttätigen Konflikten auf. Islamisten mischten im Krieg in Tadschikistan mit, wo mehrfach Konflikte unter ethnischen Gruppen aufflammten, auch Willkür von Seiten des Staates gehören zum Alltag der Menschen in manchen Regionen von Tadschikistan oder Usbekistan. Es haben sich über die Jahre Gewaltkulturen etabliert.

Zugleich fehlt jungen Menschen in der Region ein Angebot, das sie von kriminellen oder terroristischen Netzwerken fernhält. Das Bildungssystem ist unterfinanziert, der Arbeitsmarkt schwach. Viele junge Menschen aus Zentralasien zieht es zum Geldverdienen in Metropolen wie Moskau, wo sie oftmals in sozial prekären Lagen leben müssen. (mit dpa/AFP)