Berlin. Sie überlebte, weil sie sich unter einem Berg von Leichen versteckte. Nun tritt Yuval Raphael beim Eurovision Song Contest für Israel an.

Die Bilder in ihrem Kopf wird Yuval Raphael wohl niemals loswerden. Der 7. Oktober 2023 hat für die junge Frau aus Raʿanana, einem ruhigen Vorort von Tel Aviv, alles verändert. Zusammen mit etwa 4000 anderen Techno-Fans tanzt sie an diesem Tag beim Supernova-Festival in der Wüste Negev, in nächster Nähe zum Gazastreifen. Die Stimmung ist friedlich und ausgelassen zugleich, als in den frühen Morgenstunden Kämpfer der Terrororganisation Hamas den Grenzzaun durchbrechen und auf israelisches Gebiet vordringen.

Auch das Festival ist ein Ziel der Terroristen. Als die Feiernden mitbekommen, dass etwas nicht stimmt, ist es schon zu spät. Hamas-Kämpfer schießen auf die angsterfüllten Menschen, die panisch versuchen zu fliehen. Wie Yuval diese schrecklichen Stunden erlebte, hat sie später mehrfach berichtet, unter anderem vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf.

Yuval Raphael überlebte das Grauen unter einem Berg von Leichen

Dem Schweizer „Tages-Anzeiger“ erzählte sie 2023, wie sie mit anderen zu einem kleinen Raketen-Schutzraum rannte, in dem etwa zehn Menschen Platz finden können „Wir waren aber etwa 50“, sagte Yuval. „Ich habe mich in die hinterste Ecke des Bunkers gesetzt.“ Ihr Versteck blieb nicht lange unentdeckt. Die Hamas-Kämpfer feuerten wahllos auf die Schutz suchenden Menschen. Immer wieder.

„Nach dem ersten Angriff fielen Menschen auf mich. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass das Mädchen, dessen Hand ich hielt, tot war. Ihr Kopf lag auf meiner Schulter. Auf der anderen Seite war der Kopf einer anderen Leiche. Ich zog sie so zu mir, dass ihre Wange auf meiner lag, damit mein Gesicht geschützt war. Jede lebende Person hatte eine tote Person, die sie schützte“, erinnert sich Yuval.

Irgendwann ziehen die Terroristen ab. Die damals 22-Jährige muss noch stundenlang unter einem Berg von Leichen ausharren, bis israelische Soldaten eintreffen und sie befreien. Von den etwa 50 Menschen im Schutzraum überleben elf. Insgesamt töten die Angreifer israelischen Angaben zufolge mindestens 370 Menschen auf dem Festivalgelände, 44 weitere werden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Yuval Raphael
Yuval Raphael mit Shmuel Moha, einem Überlebenden der Hamas-Angriffe aus dem Kibbuz Nirim. © DPA Images | Michael Buholzer

„Ich habe unaussprechliche Schrecken erlebt“, berichtete Yuval Raphael vor den Vereinten Nationen. Die körperlichen Wunden werden heilen, sagte sie, „aber die seelischen Narben werden für immer bleiben“.

Musik hilft ihr, die Wunden zu heilen

Musik hilft Yuval Raphael, das Erlebte zu verarbeiten. Sie mag Raves und Trance-Musik ebenso wie Led Zeppelin, die Scorpions und Céline Dion. Im vergangenen Jahr hat sie ihre Karriere als professionelle Musikerin gestartet. Am Mittwoch dann der erste große Erfolg: Raphael gewann die Reality-TV-Sendung Hakochav Haba („Aufsteigender Stern“) und wird damit Israel beim Eurovision Song Contest (ESC) in im Mai in Basel vertreten. In der Qualifikationsrunde der Sendung sang sie eine Balladenversion des Lieds „Dancing Queen“ der Popgruppe ABBA und widmete ihren Auftritt „all den Engeln“, die beim Supernova-Festival ermordet wurden.

Für Yuval wird es auch eine Rückkehr sein. Sie kennt die Schweiz gut. Mit sechs Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Genf, lebte dort drei Jahre. Beim ESC will sie berichten, wie sie das Hamas-Massaker erlebt hat. „Die Welt soll aus erster Hand darüber hören, was ich durchgemacht habe und womit ich täglich zu kämpfen habe, damit niemand das Gegenteil behaupten kann“, sagt sie.

Auch beim ESC in Basel werden Proteste gegen Israel erwartet

Die 24-Jährige weiß, dass sie beim Eurovision Song Contest, der nach dem Willen der Veranstalter eigentlich komplett unpolitisch sein soll, wegen der Angriffe der israelischen Armee im Gazastreifen auf Widerstand treffen wird. Vergangenes Jahr hat Eden Golan beim ESC im schwedischen Malmö erlebt, was es bedeutet, für Israel anzutreten.

Bereits im Vorfeld gab es Boykottaufrufe gegen die Teilnahme einer israelischen Künstlerin. Die gesamte Veranstaltung wurde von Protesten auf den Straßen der Stadt begleitet. Golan wurde bei ihrem Auftritt von Teilen des Publikums ausgebuht, erreichte aber trotzdem einen guten fünften Platz – auch dank der Zuschauerinnen und Zuschauer in Deutschland, die ihr beim Televoting die höchstmöglichen zwölf Punkte gaben.

Auch Yuval Raphael will im Mai in Basel allen zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. „Ich möchte, dass ich angesichts der Buh-Rufe, die mit hundertprozentiger Sicherheit aus dem Publikum kommen werden, stark bleibe“, sagt sie in einem Interview mit der „Times of Israel“. So stark wie am 7. Oktober 2023, als sie unter einem Berg von Leichen das Grauen überlebte.