Sydney. Über-100-Jährige faszinieren die Menschheit. Doch wie wird man so alt? Ein Forscher fand heraus: Dahinter steckt womöglich ein Fehler.
In manchen Regionen scheinen Menschen besser zu altern als anderswo. Die sogenannten blauen Zonen – dazu gehören die Inseln Okinawa in Japan, Sardinien in Italien oder Ikaria in Griechenland – scheinen besonders oft Über-100-Jährige hervorzubringen. Das Geheimnis dahinter fasziniert die ganze Welt: Liegt es am Olivenöl, am Wein, oder doch am fehlenden Stress? Ein Forscher fand heraus: Der Grund ist oft viel unspektakulärer.
Bereits vor fünf Jahren behauptete der australische Forscher Saul Newman: Die Über-100-Jährigen oder „Supercentenarians“, in den blauen Zonen seien nichts als ein Mythos. Newman, der heute leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am University College in London ist, war damals Postdoktorand im australischen Canberra und erforschte die Gründe für die extreme Langlebigkeit mancher Menschen. Stattdessen will er vor allem unpräzise geführte Geburten- und Sterberegister vorgefunden haben.
Newman analysierte die Daten mehrerer dokumentierter 110-Jähriger und entdeckte Verwunderliches: Bei 80 Prozent der untersuchten Supercentenarians sollen demnach keine ordentlichen Dokumente existiert haben. Für weitere 20 Prozent hätten die verschiedenen Länder Dokumente ausgestellt, die Newman nicht nach wissenschaftlichen Kriterien analysieren konnte. Er resümierte: Die Datengrundlage der blauen Zonen sei „unglaublich fehlerhaft“. Nur: Kaum einer glaubte ihm.
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Forschung zu Über-Hundertjährigen erhielt renommierten Preis
Dass Newmans Entlarvung der Über-100-Jährigen vor fünf Jahren kaum Gehör fand, mag auch an der Mystifizierung des Themas liegen. Die Ansammlung von angeblich 100-Jährigen liefert spannenden Stoff für die Medien. Netflix hat der Thematik sogar eine eigene Dokumentation gewidmet. Doch ausgerechnet eine Auszeichnung brachte Newmans verschmähte Forschung nun zurück in den Fokus.
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Mitte September erhielt Saul Newman als einer von zehn Gewinnern den Ig-Nobelpreis des renommierten US-amerikanischen Massachusetts Institut für Technologie (MIT). Der sogenannte Anti-Nobelpreis ist eine satirische Auszeichnung für wissenschaftliche Leistungen, die „Menschen zuerst zum Lachen und dann zum Nachdenken bringen“. Auch Newmans Entdeckungen dürften für einige Schmunzler sorgen.
Menschen über 100: Oft fehlen Geburts- und Sterbeurkunde
„Der älteste Mann der Welt hat drei Geburtstage“, behauptete Newman demnach über Jiroemon Kimura. Bei seinem Tod am 12. Juni 2013 soll der Japaner 116 Jahre alt gewesen sein, er hält bis heute den Guinness Weltrekord für das höchste erreichte Lebensalter eines Mannes. Japanische Forschende hatten Kimuras Geburtsdatum 2017 zwar anhand eigener Forschungen und Interviews mit Familienangehörigen verifiziert. Newman allerdings beklagt die fehlende Dokumentation.
So hätten viele der 110-Jährigen keine richtige Geburtsurkunde, erklärte Newman in einem Interview mit dem akademischen Magazin „The Conversation“. Allein in den USA, wo über 500 Menschen 100 oder noch älter geworden sein sollen, hätten nur sieben Personen eine Geburtsurkunde gehabt. Schlimmer noch: Auch eine Sterbeurkunde habe es nur bei zehn Prozent der Fälle gegeben.
Daten sollen belegen: Die meisten Über-100-Jährigen sind längst tot
Im japanischen Okinawa stützt eine Untersuchung der japanischen Regierung aus dem Jahr 2010 die Ergebnisse des Forschers. Diese zeigte, dass 82 Prozent der angeblich über 100 Jahre alten Menschen in Japan in Wirklichkeit bereits tot waren. Das Geheimnis der Über-110-Jährigen war in vielen Fällen demnach keine gute Ernährung, sondern schlichtweg Rentenbetrug. In Japan komme zudem hinzu, dass viele Aufzeichnungen während des Zweiten Weltkrieges verloren gingen.
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Auch in den anderen blauen Zonen vermutet Newman Betrug. Allein in Griechenland seien mindestens 72 Prozent der 100-Jährigen bereits tot, behauptet Newman. Dabei beruft er sich auf die statistische Lebenserwartung der Bevölkerung: Zu Beginn der Aufzeichnungen des EU-Statistikamtes Eurostat im Jahr 1990 lag die griechische Insel Ikaria lediglich auf Platz 109 von 128 Regionen. Die italienische Insel Sardinien, auf der ebenfalls überdurchschnittlich viele 100-Jährige wohnen, schaffte es auf Platz 51.
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Entgegen aller Annahmen verurteilt Newman die falschen 100-Jährigen und ihre Familienmitglieder allerdings nicht. Im Gegenteil: Gegenüber „Al Jazeera“ erklärte er, dass er den Rentenbetrug sogar gut finde: „Die Regierungen lassen die Menschen an diesen Orten im Stich“, so Newman. „Sie bekommen keine ausreichende Rente und kein Auffangnetz für den Ruhestand.“
100 Jahre alt und mehr? Davon soll es abhängen
Newmans Kritik richtet sich vor allem internationale Organisationen, Regierungen und Wissenschaftler, die sich trotz allem Zweifeln weiterhin auf die Daten der vermeintlichen Superalten verlassen. Er sieht darin sogar eine Gefahr: So führten die Fehler zu falschen Prognosen, etwa bei der Planung von Krankenhäusern oder der Berechnung von Versicherungsprämien.
Eine Frage bleibt allerdings weiterhin offen: Wie funktioniert der Trick hinter einem besonders hohen Alter? Newman äußert eine Vermutung: Nicht eine bestimmte Region bestimme das Lebensalter, sondern finanzieller Wohlstand. „Reiche Menschen treiben viel Sport, haben wenig Stress und ernähren sich gut“, so der Forscher.
Wenn Statistiken also nahelegen, dass in armen Regionen wie Liverpool, dem Londoner Stadtbezirk Tower Hamlets oder in Manchester besonders viele 105-Jährige leben sollen, während es an denselben Orten kaum 90-Jährige gibt, kann Newman zufolge also etwas nicht stimmen.
Doch wie erklärt er sich, dass mit dem 112-jährigen John Tinniswood der aktuell älteste Mann der Welt ausgerechnet aus der englischen Stadt Liverpool kommt? Am wahrscheinlichsten sei, dass jemand Tinniswoods Geburtstdatum irgendwann falsch angegeben hätte – oder dass der Über-100-Jährige sein wahres Alter schlichtweg vergessen hätte.
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