Essen. Im Interview mit der NRZ spricht Christoph Landscheidt, Präsident des Städte- und Gemeindebunds NRW, über Investitionen, Flüchtlinge und die AfD.

Es sind keine leichten Zeiten für die Städte und Gemeinden in NRW: Der Haushalt ist oft im Defizit, man schlägt sich mit Klagen über die Grundsteuer herum, sucht Unterkünfte für Flüchtlinge und hat dazu noch mit der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Christoph Landscheidt (SPD), Präsident des Städte- und Gemeindebunds NRW und Bürgermeister von Kamp-Lintfort, lässt im Gespräch mit der NRZ durchblicken, wie die Lage in den Kommunen an Rhein und Ruhr ist.

Wie erklären Sie den Leuten das Thema Grundsteuer?

Ursache für die Reform ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Einheitswerte für die Bewertung des Grundbesitzes völlig veraltet waren und dem Gleichheitsgrundsatz widersprachen. Deshalb mussten die Finanzämter alle Grundstücke neu bewerten. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die einzelnen Immobilienwerte aber sehr unterschiedlich entwickelt. Die Folge sind automatisch massive Verschiebungen, auch wenn die Gemeinde nicht mehr Steuern einnimmt als vorher. Wenn ich beispielsweise Kamp-Lintfort nehme mit einem alten, bislang sehr niedrig bewerteten Bestand von Genossenschafts- und Bergbauwohnungen, der jetzt plötzlich sehr hoch bewertet würde, dann hätten die Mieter dort deutlich mehr Nebenkosten als andere. Das kann ich nur schwer erklären.

Wie kann man auf die Leute zugehen?

Das Land hat den Kommunen die Möglichkeit gegeben, bei der Grundsteuer zwischen Gewerbe- und Wohnflächen zu differenzieren. Wir in Kamp-Lintfort haben das gemacht, damit vor allem die Mietnebenkosten durch eine Erhöhung der Grundsteuer nicht unverhältnismäßig steigen. Andere Kommunen haben sich gegen diese Option entschieden. Zum einen, weil sie mitten in der Konjunkturflaute die Unternehmen vor Ort nicht stärker belasten wollen. Zum anderen, weil das ganze Konstrukt rechtlich auf wackligen Füßen steht.

Klar ist: Eine Lösung vor Ort, die alle gerecht und angemessen finden, gibt es nicht. Wer will schon mehr bezahlen? Unser Problem ist und bleibt, dass die Kommunen chronisch unterfinanziert sind und umso mehr die Einnahmen der Grundsteuer brauchen, um zum Beispiel Schulen, Kitas, Straßen und Spielplätze zu finanzieren. Die jetzige Reform allein hat allerdings keine Stadt zum Anlass für eine allgemeine Erhöhung genommen, soweit ich das überschaue.

Mehr zum Thema Grundsteuer

Wie bitter ist die Konjunkturflaute für die Kommunen?

Das ist gravierend, allein beim Thema Wohnungsbau. Wir haben in Kamp-Lintfort eine ganze Reihe von Grundstücken mobilisiert für den Wohnungsbau, für Einfamilienhäuser und Ähnliches. Aber in der aktuellen Situation mit steigenden Zinsen, Problemen bei Lieferketten und in der Bauindustrie tut sich da kaum noch etwas. Das ist für uns als Stadt, aber auch für die Frage der Befriedigung des Wohnbedarfs ein großes Problem.

Auch interessant

Wie äußert sich das konkret in Ihrer Stadt?

Wenn wir Grundstücke baureif machen, muss man Leute finden, die jetzt bauen wollen. Und selbst wenn man Bauwillige hat, die auch das Geld haben, dann ist das nächste Thema die Wärmeversorgung des Hauses. Wir sind eine der Städte, die sehr früh mit der kommunalen Wärmeplanung – das ja eine gesetzliche Aufgabe – angetreten sind. Wir haben das Glück, auch Fernwärme verteilen zu können, aber der Bauherr muss sich entscheiden, ob er Fernwärme oder eine Wärmepumpe haben will. Das beeinträchtigt die Möglichkeit, zügig Grundstücke zu verkaufen. Die unmittelbare Folge für uns ist also, dass wir keine Einnahmen haben. Nicht nur beim Grundstücksverkauf, sondern auch keine Einnahmen durch Zuzug von Menschen, die Steuern zahlen in der Stadt. Eine solche konjunkturelle Lage zieht immer eine Kette von Folgen nach sich.

Welches Volumen an Investitionen bräuchten die Kommunen?

Der zuletzt ermittelte Bedarf an Investitionen betrug bundesweit 186 Milliarden Euro, und er wächst weiter. Für NRW rechnen wir ganz grob heruntergebrochen mit 50 Milliarden. Für eine Stadt wie Kamp-Lintfort heißt das: Wir haben in den letzten sieben Jahren 60 Millionen in Schul- und Kita-Bau gesteckt. Das Geld dafür haben wir als Darlehen aufgenommen. Die Alternative wäre gewesen, es nicht zu machen. Das geht aber nur so lange, wie man sich nicht überschuldet.

Natürlich gibt es Defizite in vielen Städten, vor allem in Großstädten. Aber wir zum Beispiel haben keine maroden Schulen oder Kitas. Im Gegenteil: Wir haben in kürzester Zeit drei neue Kitas gebaut und eine davon kostet 4,5 Millionen Euro. Das haben wir gemacht, weil wir Zuzugsstadt sind, weil wir den Bedarf haben, aber das ging nicht aus eigenen Mitteln, sondern wir haben Schulden aufgenommen. Wir sparen dafür am Straßenbau und reparieren diese oft nur dann, wenn sie nicht mehr verkehrssicher sind. Unterm Strich stehen den Kommunen viel zu wenig Mittel zur Verfügung, um dem Investitionsbedarf gerecht werden zu können.

Von außen betrachtet läuft es doch in Kamp-Lintfort: Sie sind Hochschulstandort, bekommen einen Bahnhof, haben schon ein Kino und hatten 2020 die Landesgartenschau.

Das stimmt. Manchmal gehört auch dazu, dass man den Mut hat, Entscheidungen zu treffen, mit denen man auch scheitern könnte. Wir haben zum Beispiel die Landesgartenschau in Corona-Zeiten eröffnet, wo alle gesagt haben: „Lass das sein!“ Das hätte auch richtig schiefgehen können. Selbst der Gesundheitsminister hat mich angerufen und gesagt: „Das würde ich nicht tun.“ Wir haben aber vorher 5000 Leute da entlanglaufen lassen und gezeigt, dass man dort Abstände einhalten kann. Wir haben eine absolute Mehrheit bei uns im Rat, mit der man Entscheidungen treffen kann, und ich habe ein super Team in der Verwaltung. Aber Mut gehört auf jeden Fall dazu. Die Torte kriegt immer der ins Gesicht, der da oben steht und die Entscheidung getroffen hat.

Hat sich die Lage bei Flüchtlingen entspannt?

Die Zahlen sind in den vergangenen Monaten zurückgegangen. Fakt ist aber, dass wir nach wie vor erhebliche Probleme vor Ort haben, da erhöht jeder neu an die Kommune zugewiesene Flüchtling den Druck. Wir haben zu wenig Plätze, weil in den Sammelunterkünften Leute sitzen, die eigentlich eine Wohnung brauchen, der Markt aber nichts Bezahlbares hergibt.

Ein Problem für sich sind die Kosten. Wir müssen Unterkünfte als Reserve vorhalten, damit wir bei der nächsten Krise nicht wieder gezwungen sind, Turnhallen zu aktivieren. Bisher sehen wir dafür nicht einen Cent. Außerdem ist die Erstattungspauschale für die Flüchtlinge nach wie vor zu niedrig. Das Land hat sie kürzlich auf unser Drängen hin um 15 Prozent erhöht, gefordert hatten wir 25. Am Ende bleiben wir als Kommunen auch hier wieder auf nicht erstatteten Kosten sitzen.

Das gravierendste Problem für mich sind die Kinder, die bei uns in den Kitas und Schulen sind. Das sind ja Menschen, die wir in Zukunft gut ausgebildet brauchen. Wir haben aber weder die Räume noch ausreichend Personal, um gute Voraussetzungen für gelingende Integration zu schaffen.

Wie ist die Akzeptanz der Menschen für Flüchtlinge?

In den Schulen und Kitas hängt das davon ab, ob alles gut funktioniert. Wenn ich genug Personal und Räumlichkeiten habe, ist das der Fall. Aber in dem Moment, in dem Sie keinen Sportunterricht mehr geben können, weil eine Turnhalle belegt wird, haben Sie Probleme. Dann kommen die auf die Bühne, die wir da nicht haben wollen.

Vor dem Hintergrund der Kommunalwahl in diesem Jahr: Wie würde man damit umgehen, wenn es künftig einen AfD-Bürgermeister in NRW gäbe?

Wir diskutieren gerade im Verband, ob man da überhaupt allgemeine Vorgaben machen kann. Das ist sehr schwierig, weil wir ja unterstellen, dass der- oder diejenige demokratisch gewählt ist und wir erwarten dürfen, dass der- oder diejenige sich an demokratische Regeln hält. Das Gefährliche ist, dass die Parteien und Leute, über die wir hier reden, gerade dieses System nutzen, um es am Ende zu missbrauchen. Das ist die Schwäche der Demokratie.

Würde ein Verbotsverfahren gegen die AfD helfen, besser damit umgehen zu können?

Ich kann hier nur für mich persönlich sprechen, meine aber, dass die verfassungswidrigen Tendenzen der AfD gerade in jüngster Zeit so stark geworden sind, dass man den Mut haben sollte, ein Verbotsverfahren in Erwägung zu ziehen. Auch wenn es am Ende scheiterte – wovon ich nicht mehr ausgehe –, würde doch allein die Diskussion schon helfen klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben. Natürlich würde es auch bei einem Verbot wieder Parallelstrukturen geben, aber ich glaube, wenn man das Thema mutig angeht, kommen wir einen Schritt weiter.

Wie gut sind die Kommunen auf die Bundestagswahl vorbereitet?

Gut, soweit ich das überschauen kann. Da sind wir Profis. Wobei ich das gern zum Anlass nehmen möchte, Bürgerinnen und Bürger einzuladen, sich als Wahlhelfer zu melden. Ich kann versprechen: So erlebt man ganz konkret, dass Demokratie nichts Abstraktes ist.

Wir haben zwei Wahlen in diesem Jahr, welche ist für Sie die wichtigere?

Als Bürger dieses Staates die Wahl im Februar. Zugegeben, für mich als Bürgermeister, der am 14. September wieder kandidiert, ist natürlich die Kommunalwahl wichtig, aber auch aus Sicht unserer Stadt ist die Bundestagswahl richtungsweisend.

Wie ernst ist die Lage beim Katastrophenschutz?

Ich sehe uns da zurzeit noch ein wenig wie das Kaninchen vor der Schlange. Für einen Katastrophenfall – wie immer der aussieht – sind wir bei weitem noch nicht so ausgerüstet, wie es notwendig wäre. Da rede ich gar nicht von Schutzräumen, sondern von der Frage, was passiert, wenn mal drei Tage der Strom ausfällt.

Was muss passieren?

Erstmal müssen wir uns dessen viel stärker bewusst werden, was passieren kann. Beispiel Stromausfall: Da geht es um die Klinik, wo die Atemgeräte ausfallen, aber auch darum, dass man den normalen Alltag nicht mehr bewältigen kann. Man muss sich darauf vorbereiten, dass das im Großen passieren kann und klare Ablaufpläne haben, was dann zu geschehen hat. Das ist eine Mammutaufgabe. Wir Kommunen sind diejenigen, die als allererste das Problem vor der Tür haben. Im Notfall muss der Kreis, das Land und am Ende die Bundeswehr helfen. Diese Kaskade muss im Katastrophenfall stimmen. Die gute Nachricht ist: Wir arbeiten auf allen Ebenen sehr intensiv an dem Thema, um für die Zukunft besser gerüstet zu sein.