Geldern. Im Kreis Kleve gibt‘s den ersten hebammengeleiteten Kreißsaal. Wieso das eine Alternative ist – gerade zum gefährlichen Trend der „Alleingeburt“.
Es ist der 22. Oktober, gegen 5.30 Uhr, als ihr Handy klingelt. Jetzt! Es geht los! Sabine Toennessen zögert nicht lang, auch wenn sie eigentlich frei hätte, sondern macht sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus. Und obwohl sie seit 35 Jahren Hebamme ist, obwohl sie bereits unzähligen Kindern auf die Welt geholfen hat, ist sie plötzlich aufgeregt. Denn gleich beginnt die erste Geburt im hebammengeleiteten Kreißsaal des St.-Clemens-Hospitals in Geldern.
Das Konzept setzt sich an immer mehr Kliniken durch, auch bedingt durch das seit 2021 laufende Förderprogramm des NRW-Gesundheitsministeriums. So gibt es in NRW aktuell 34 hebammengeleitete Kreißsäle, weitere sind bereits in Planung. Auch das St.-Clemens-Hospital hatte eine Förderung von 25.000 Euro beantragt, denn gerade für die Hebammen selbst war eine solche Einrichtung eine absolute „Herzensangelegenheit“, wie Sabine Toennessen als Leitende Hebamme des Kreißsaals verrät. Tatsächlich hätte die Umsetzung ohne die Hebammen auch nicht funktioniert, betont Dr. med. Ute Janßen, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, „weil sie hier noch mehr arbeiten als es sowieso schon nötig ist.“
Die Realität in Kreißsälen sieht oft anders aus
Die Hebammen mussten Konzepte schreiben, Fortbildungen absolvieren, Supervisionen organisieren... und sich dabei immer wieder fragen: „Was können wir als Hebammen leisten?“ Oder auch: „Wie können wir die Frauen noch individueller begleiten?“ Vielleicht durch Massagen, Aromatherapie, Entspannungsübungen, Akkupunktur? Die Möglichkeiten sind vielfältig, wie Sabine Toennessen erklärt. Und sie alle zielen auf eines ab: „Wir wollen gesunden Frauen so wenig Medizin wie möglich geben.“ Ganz nach dem Motto: „So wenig wie möglich, so viel wie nötig.“ Die Nachfrage nach einem solchen Angebot ist groß, gerade weil immer noch eine verschobene Vorstellung von klassischen Kreißsälen herrscht: Grelles Licht, laute Stimmen und viel zu viele Eingriffe.
Das entspricht nicht der Realität, stellt Ute Janßen klar. „Aber aktuell wird ja auch öfter über Gewalt im Kreißsaal gesprochen“, sagt sie, „deshalb ist wahrscheinlich auch das Bedürfnis größer, sich mit dem Thema zu beschäftigen.“ Sabine Toennessen nickt. „In den 35 Jahren hat sich vieles gewandelt“, sagt sie. Viele Frauen wünschen sich mehr Absprachen mit der Hebamme, damit die Geburt nach den individuellen Vorstellungen ablaufen kann – und eben nicht fremdbestimmt. „Wir führen dafür mehrere Gespräche vor der Geburt“, sagt die Hebamme. So wusste sie beispielsweise, dass an jenem frühen Oktobermorgen die werdende Mutter eine bestimmte Sorge – und konkrete Wünsche hatte.
Hebammen können unterstützen, aber nicht zaubern
„Sie hatte Angst vor einem Kaiserschnitt“, erzählt Sabine Toennessen, „weil ihr Baby sehr groß war.“ Aber weil sie das Ganze bereits kannte, ihr zweites Kind war ebenfalls sehr groß, wollte sie nicht erneut über die Risiken aufgeklärt werden. Auch die Geräusche des CTG hätten sie gestresst, „deshalb habe ich das Gerät immer nur kurz dran gehalten, um die Herztöne hören zu können.“ Doch so „privat und intim“ alles auch ist, wie sie sagt, zaubern können die Hebammen leider nicht. „Helfen Sie mir, die Wehen wegzuatmen!“, ist eine Bitte, die sie oft zu hören bekommen. „Die Wehen kann man nicht wegatmen“, sagt sie. Und wenn es dem Kind nicht gut geht, während die Mutter beispielsweise badet, „dann muss sie raus aus der Badewanne.“
Viel Zeit für Erklärungen bleibt nicht immer, deshalb gibt‘s die Vorgespräche sowie mehrere Voraussetzungen: Nur Mütter, die gesund sind und mindestens schon ein Kind geboren haben, dürfen in den hebammengeleiteten Kreißsaal. Und wenn es tatsächlich gefährlich wird oder die Schmerzen zu groß werden, findet die „Überleitung in den ärztlich geleiteten Kreißsaal“ statt, wie es offiziell heißt. Dafür muss aber niemand den Raum wechseln, stattdessen kommt nur ein Arzt oder eine Ärztin hinzu. „Und wir tun ja nix Schlimmes“, erklärt Ute Janßen. „Unsere Lieblingsgeburt ist auch die, bei der wir nur sitzen und vor uns hinatmen müssen.“ Wenn es aber eben nicht anders geht, unterstützen sie durch stärkere Schmerzmittel oder schließlich durch medizinische Interventionen.
„Alleingeburten“: Problematischer Trend auf Instagram & Co.
„Wir hoffen dadurch auch, die Hemmschwelle bei denjenigen zu senken, die aus Angst nicht ins Krankenhaus wollen“, erklärt Ute Janßen. Aus Angst? Oder aus einem Trend heraus? Tatsächlich geistert in den Sozialen Medien seit einiger Zeit der Begriff „Alleingeburt“ herum. Mütter teilen ihre Erfahrungen von ihren angeblich komplikationsfreien, selbstbestimmten, wunderschönen Geburten – ganz ohne medizinische Unterstützung. Eine problematische Entwicklung, die das Leben der Mutter und des Kindes gefährden kann, wie die Chefärztin betont. Für ebenjene Frauen, die am liebsten die Geburt zuhause durchführen würden, die aber auch auf die Sicherheit der Klinik nicht verzichten möchten, könnte der hebammengeleitete Kreißsaal die perfekte Lösung sein.
Der hebammengeleitete Kreißsaal
Das Einzugsgebiet des Generationen-Krankenhaus St.-Clemens-Hospital und des Medizinischen Versorgungszentrums erstreckt sich weit über die Stadt Geldern hinaus und schließt u.a. die Städte Kevelaer, Xanten, Rheinberg, Kamp-Lintfort, Issum, Alpen, Sonsbeck, Neukirchen-Vluyn, Kerken und Straelen mit ein.
Der hebammengeleitete Kreißsaal ist gedacht für alle Schwangeren, die sich eine natürliche Geburt, möglichst ohne medizinische Interventionen und in Begleitung einer erfahrenen Hebamme wünschen. Weitere Infos sind online zu finden unter: www.clemens-hospital.de/medizin-pflege/medizin/geburtshilfe/hgk
Deshalb würde sich Sabine Toennessen auch wünschen, „dass so etwas in jeder Klinik angeboten wird.“ Klar, sie weiß selbst am besten, wie viel Arbeit eine 1:1-Betreuung für die Hebammen bedeutet: Wenn das Kind länger braucht, schiebt sich der Feierabend immer weiter nach hinten. Oder wenn das Kind um 5.30 Uhr entscheidet, dass es nun gleich auf die Welt kommen möchte, dann fällt der freie Tag auch schon mal kurzerhand aus... Ja, sie war an diesem Oktobermorgen aufgeregt, „ich hatte einen schnelleren Puls“, aber das legte sich schon nach kurzer Zeit wieder. „Mich hat eine wunderbare Ruhe überkommen“, erzählt Sabine Toennessen. „Das kenne ich sonst auch. Aber die Frau war ebenfalls ungeheuer bei sich.“
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Hebamme: „Wow, wie schön!“
Als die Hebamme den Kreißsaal betritt, steht die Mutter gerade am Tuch, das von der Decke hängt. Sie nickt kurz und beachtet sie sonst nicht weiter. Kurz bevor es so weit ist, holt Sabine Toennessen eine Kollegin, „für den Fall, dass eine Notwendigkeit des Handelns entsteht“, erklärt sie. Doch der Fall tritt nicht ein. Zum Glück. Und dann, um 10.05 Uhr, ist es so weit. Lina ist auf der Welt! Gesund und munter. Es sind solche Momente, die all den Stress vergessen machen. „Oxytocin wird ausgeschüttet“, sagt sie. Und zwar bei allen, die bei dem Wunder dabei sind! „Ein bisschen ist das wie Weihnachten oder wie ein warmer Regen.“ Wenn sie danach nach Hause geht, denkt sie jedes, wirklich jedes Mal: „Wow, wie schön!“