Am Niederrhein. Wie soll es weitergehen, nachdem sich die Tochter das Leben genommen hat? Eine Familie vom Niederrhein erzählt ihre bewegende Geschichte.

Es ist ein Tag, der wie jeder andere beginnt. Maike Schmidt* ruft die Treppe hoch, dass es langsam Zeit zum Aufstehen ist. Ihre Tochter antwortet, sie ist also wach, und doch kommt die 17-Jährige nicht zum Frühstück. Nicht nach fünf Minuten, nicht nach zehn Minuten. Und dann, von einem Moment auf den anderen, ist nichts mehr wie zuvor: Es ist der Tag, an dem sich Laura das Leben nimmt.

14 Jahre später ist die Trauer immer noch zu spüren. Doch es schwingt auch viel Liebe mit, wenn Maike und Peter Schmidt über ihre Tochter sprechen. Dort drüben, die 65-Jährige zeigt auf die Wand im Wohnzimmer, hängt ein Bild, das ihre Freundinnen und Freunde der Familie geschenkt haben. Darauf zu sehen ist Laura, wie sie auf einer Wiese sitzt, vor einem Fahrrad, und in die Kamera lächelt. „Sie war eher zurückhaltend und schüchtern“, erzählt ihre Mutter.

Aber Laura hatte auch viele Hobbys – sie war im Fußballverein, bei der DLRG und als Messdienerin aktiv, spielte Klavier und fuhr Rad. „Und sie war eine gute Schülerin“, sagt Maike Schmidt. „Deshalb kam in der zehnten Klasse ihre Lehrerin zu ihr und meinte, dass sie die elfte Klasse überspringen könnte.“ Doch Laura hatte andere Pläne, sie wollte lieber ein Auslandsjahr machen. Ihre Eltern waren einverstanden und Laura reiste in die USA. Dort lebte sie bei einer Gastfamilie, ging auf eine Highschool... und erkrankte.

Depressionen – wie „Krebs im Kopf“

Eine genaue Diagnose haben ihre Eltern nicht, vielleicht wurde sie manisch-depressiv, vermuten sie heute. Aber Laura ging es schlecht, das merkten sie auch damals. „Wir haben mit ihr telefoniert und dann gemeinsam den Abbruch geplant“, erzählt Maike Schmidt. Nach sieben Monaten kehrte Laura zurück nach Deutschland, mehrere Wochen verbrachte sie in einer Klinik. Das war eine schwere Zeit, aber, das betont Peter Schmidt auch, „man denkt nicht an Suizid.“

Ja, ihre Tochter hatte einen „psychischen Durchhänger“, so formuliert es der 64-Jährige, aber sie bekam ja Hilfe! Und tatsächlich verbesserte sich auch Lauras Zustand. Sie kehrte in die Schule zurück, machte eine Fahrradtour mit ihrem Freundeskreis, „danach ging es ihr wieder richtig gut“, erzählt Maike Schmidt. Auch die Therapeutin, die Laura weiterhin ambulant besuchte, war zuversichtlich: „Das nächste Mal sehen wir uns, wenn du 18 Jahre alt bist.“ Doch Laura wurde nie 18 Jahre alt.  

„Es war ein schleichender Prozess“, erzählt Maike Schmidt. „Sie hat sich zurückgezogen, aber ist noch zur Schule gegangen und hatte dann am Wochenende richtige Durchhänger.“ Ihre Mutter überredete sie, wieder zur Therapeutin zu gehen, schließlich hatte ihr eine Behandlung schon einmal geholfen. Aber vielleicht war die Krankheit nun zu weit fortgeschritten? Peter Schmidt beschreibt die Depression als „Krebs im Kopf“, denn ein Suizid ist nie freiwillig, „sie hat einfach keine Ruhe gefunden.“

10.300 Menschen begangen 2023 Suizid

Dabei ist ihm wichtig zu betonen, dass nur die wenigsten, die an einer Depression erkranken, diesen Weg wählen. „Aber die meisten, die Suizid begehen, leiden unter Depressionen“, fügt Maike Schmidt hinzu. Ihr Mann nickt, „und das ist immer noch ein Tabu, über das niemand redet.“ Dabei beendeten allein im vergangenen Jahr 10.300 Menschen ihr Leben durch einen Suizid, wie das Statistische Bundesamt mitteilt.

Und jeder Suizidtote hinterlässt Angehörige, nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind es fünf bis sieben, die plötzlich mit dem Verlust leben müssen. „Eine Welt bricht zusammen“, erklärt Peter Schmidt. „Man fühlt sich, als ob etwas amputiert worden wäre.“ Zunächst funktionierten die Eltern einfach nur – meldeten sich von der Arbeit ab, organisierten die Beerdigung. „Aber die Gedanken kreisen den ganzen Tag“, erzählt sie. Hätte ich die Anzeichen erkennen müssen? Hätte ich etwas anders machen müssen?

Maike Schmidt konnte nicht mehr alleine einkaufen gehen, traute sich nur noch mit einer Freundin raus. „Es hat sich angefühlt, als ob ich ein Schild auf der Stirn hätte, auf dem steht: Meine Tochter hat sich das Leben genommen.“ Allerdings, das zeigte sich auch, gingen alle unterschiedlich mit der Situation um. Die beiden Geschwister, zu dem Zeitpunkt 13 und 15 Jahre alt, kehrten schnell in ihren Alltag zurück. Die Jüngste ging noch vor der Beerdigung wieder zur Schule, Peter Schmidt nach zwei Wochen wieder zur Arbeit.

Selbsthilfegruppe für „Angehörige um Suizid“ am Niederrhein

Von seinem Chef erfuhr der 64-Jährige auch von der AGUS-Initiative – Selbsthilfegruppen für „Angehörige um Suizid“. Weil es zu dem Zeitpunkt noch keine am Niederrhein gab, fuhr das Paar nach Düsseldorf. Und tatsächlich, der intensive Austausch mit anderen Betroffenen half ihnen. „Man sieht immer nur sich und dass einem das Schlimmste passiert ist, was hätte passieren können“, erklärt Maike Schmidt. „Und dann sitzen da bis zu zehn Leute, die eine ähnliche Geschichte erlebt haben.“

Plötzlich realisierten die Eltern: Wir sind nicht allein mit unserem Schicksal! Und dann erzählten sie von Laura, wie sie gelebt hat und gestorben ist, erzählten von der Lücke, die sie hinterlässt. „Dadurch, dass ich meine Gefühle äußern kann, verlieren sie an Macht“, so beschreibt es Peter Schmidt. „Das war wie eine Therapie.“ Wobei, das betont seine Frau, „es keine Therapie ersetzt.“ Sie sind froh, dass gerade ihre Kinder psychologisch betreut wurden. Für sie aber war der Austausch mit anderen Betroffenen das Richtige.

Mittlerweile gibt es auch am Niederrhein eine Selbsthilfegruppe, die Maike Schmidt seit drei Jahren sogar leitet. Einmal im Monat treffen sich die Angehörigen in Kevelaer, um über ihren Verlust zu sprechen, aber auch um Wege aus der Trauer heraus zu finden. Ganz wichtig dabei: „Rituale können helfen“, weiß die 65-Jährige nun. Gerade, wenn es um Feiertage geht. Das erste Weihnachten ohne Laura? „War ganz schrecklich.“

Momente, in denen die Tränen kommen – auch nach 14 Jahren

Doch gemeinsam fand die Familie eine Möglichkeit, wie sie Laura in das Fest einbinden können: Jedes Jahr schneiden sie einen Tannenzweig vom Weihnachtsbaum ab, den sie schmücken und aufs Grab legen. „Besonders der jährliche Todestag ist immer wieder wie ein Berg, den man erklimmen muss“, erklärt Maike Schmidt, „und wenn man oben ist, hat man schon richtig was geschafft – danach wird es ein bisschen leichter.“ Die Gefühle sind dabei nie weg, betont ihr Mann, „aber man lernt, mit dem Tod zu leben.“

AGUS-Selbsthilfegruppe Niederrhein

Die AGUS-Selbsthilfegruppe Niederrhein trifft sich einmal im Monat in Kevelaer. Tag und Ort erfahren Interessierte auf Anfrage:
kevelaer@agus-selbsthilfe.de

Oft wenden sich auch Hilfesuchende an AGUS, die selbst suizidgefährdet sind oder in deren Umfeld ein Mensch suizidgefährdet ist, bzw. sie dies befürchten. Für solche Fälle ist die Telefonseelsorge die richtige Anlaufstelle: 0800/1110111 oder 0800/1110222

Weitere Infos zu AGUS: www.agus-selbsthilfe.de

Natürlich gibt es auch nach 14 Jahren immer noch diese Momente, in denen die Tränen kommen. Wenn die Eltern beispielsweise einen Freund von Laura treffen, der mittlerweile verheiratet ist und zwei Kinder hat, dann fragen sie sich: Was wäre aus Laura geworden? Welches Leben würde sie jetzt führen? „Aber die Gefühle werden nicht mehr übermächtig“, kann Maike Schmidt nun sagen. Mehr noch, ihr Mann lächelt, „wir konnten lernen, dankbar zu sein, sie 17 Jahre gehabt zu haben.“

* Alle Namen wurden geändert.

Hinweis: Wir berichten in der Regel nicht über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Falls Sie Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Suizid-Gedanken hat, wenden Sie sich an die Telefonseelsorge unter 0800/1110111 (kostenlos). Die Nummer ist rund um die Uhr besetzt.