An Rhein und Ruhr. Die Suizidpräventionsstrategie der Bundesregierung soll Betroffenen bessere Hilfe ermöglichen. Warum Experten die Strategie kritisieren.

Mehr als 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland jährlich das Leben. Zum Vergleich: Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen zusammen. Trotzdem wird verhältnismäßig wenig darüber gesprochen. Damit sich das ändert und die Zahlen wieder sinken, hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Mai eine neue Suizidpräventionsstrategie vorgestellt – die gemischt aufgenommen wurde.

„Grundsätzlich ist es natürlich toll, dass da etwas passiert“, findet Jane E. Splett, Vorsitzende des Essener Bündnis gegen Depression und Vorstandsvorsitzende der LVR-Universitätsklinik Essen. „Der Handlungsbedarf ist schließlich sehr groß. Trotzdem greift die Strategie an manchen Punkten nicht weit genug.“ Doch was ist überhaupt geplant?

Suizidpräventionsstrategie: Das ist geplant

Die Strategie stützt sich auf Empfehlungen von Politik, Forschung und Beratungsstellen und sieht unter anderem eine bundesweite Koordinierungsstelle für Beratungs- und Kooperationsangebote vor. Das entsprechende Gesetz will der Gesundheitsminister in den kommenden Monaten noch vorlegen. Außerdem sollen Fachkräfte im Gesundheitswesen stärker geschult und eine Krisendienst-Notrufnummer eingeführt werden, denkbar wäre hier die 113.

Unter dieser neuen Notrufnummer sollen Suizidgefährdete dann Hilfe bekommen und an weitere Hilfsangebote verwiesen werden. „Vielerorts gibts es etwas in dieser Richtung schon. Auch in Essen gibt es einen sozialpsychiatrischen Dienst, an den man sich wenden kann, wenn man Suizidgedanken hat“, erklärt Splett im Gespräch mit unserer Redaktion. Besteht bei einer Anruferin oder einem Anrufer eine akute Suizidgefahr, werde diese Person in der Regel sofort in ein Krankenhaus gebracht.

Experten kritisieren fehlende Finanzierungspläne

Die deutliche Mehrheit der Suizidgefährdeten leidet an einer psychischen Erkrankung, am häufigsten an einer Depression, mahnt die Deutsche Depressionshilfe. „Diese Personen brauchen natürlich langfristige Hilfe, also eine amulante oder sogar stationäre Therapie“, führt Splett weiter aus. Viele Betroffene haben ebenfalls mit einer Sucht zu kämpfen, das erschwert die Behandlung und erfordert spezielle Fachkräfte. In der Suizidpräventionsstrategie bekäme die finanzielle Unterstützung und der Ausbau solcher Anlaufstellen aber nicht genug Gewicht, kritisiert Splett.

Jane E. Splett ist Vorstandsvorsitzende des LVR Klinikum und Vorsitzende des Essener Bündnis gegen Depression.
Jane E. Splett ist Vorstandsvorsitzende des LVR Klinikum und Vorsitzende des Essener Bündnis gegen Depression. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Denn wer einen Therapieplatz braucht, muss dafür oft mehrere Monate warten. Das weiß Christoph Koban nur zu gut. Er ist Psychologischer Psychotherapeut in Essen und bekommt nahezu täglich neue Anfragen. „Ich kann wahrscheinlich für die nächsten sieben oder acht Monate keinen neuen Patienten aufnehmen“, erzählt er unserer Redaktion. „Wenn man schon über eine Koordinierungsstelle spricht, muss auch hier deutlich nachgebessert werden“, so der Psychotherapeut. Das kritisiert auch Helmut Ellensohn, Co-Vorsitzender der Telefonseelsorge Deutschland. Eine Koordinierungsstelle sei nur der erste Schritt, dem weitere zwingend folgen müssten.

„Wenn man schon über eine Koordinierungsstelle spricht, muss auch hier deutlich nachgebessert werden.“

Christoph Koban, Psychologischer Psychotherapeut
über die fehlenden Plätze in der Psychotherapie

Suizidversuche sollen erschwert werden

„Trotzdem ist es etwas Gutes, dass sich die Lage durch die neue Strategie verändert und die Themen Depression und Suizid mehr Aufmerksamkeit bekommen“, so Koban. Die Enttabuisierung ist dabei auch ein Ziel von Gesundheitsminister Lauterbach. Mittelfristig sollen dazu auch eine Aufklärungskampagne und Schulungen in der Pflege und dem Gesundheitswesen beitragen.

Psychotherapeut Christoph Koban erhält fast täglich neue Anfragen.
Psychotherapeut Christoph Koban erhält fast täglich neue Anfragen. © Privat

Darüber hinaus sollen Suizidversuche über verschiedene Wege erschwert werden. Dafür sieht die Suizidpräventionsstrategie unter anderem „Zugangsbeschränkungen zu Mitteln und Orten für einen Suizidversuch“ vor. Dazu zählen vor allem Hochhäuser, Brücken und Gleisanlagen.

Immer weniger Bahnübergänge

Konkrete Pläne dazu gibt es bei der Deutschen Bahn noch nicht, wie ein Unternehmenssprecher auf Nachfrage verrät. Die Deutsche Bahn arbeite allerdings schon seit Jahren daran, die Zahl der Bahnübergänge zu reduzieren, um Unfälle zu vermeiden. 2005 gab es in Deutschland laut Bundesverkehrsministerium noch 28.336 Bahnübergänge, 15 Jahre später waren es dann 22.545. Für ratsam hält es der Essener Psychotherapeut außerdem, auch die Verfügbarkeit von Medikamenten zu reduzieren, die für oft für Suizidversuche missbraucht werden.

Hilfe bei Suizidgedanken

Sie selbst haben Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Suizidgedanken – oder kennen jemanden, den eine psychische Erkrankung beschäftigt? Es gibt Hilfe. Professionelle Beratung – rund um die Uhr – bietet unter anderem die Telefonseelsorge unter den Rufnummern (0800) 1110111, (0800) 1110222 und 116 123 oder per Mail und Chat an. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt. Für Kinder und Jugendliche stehen die Nummer gegen Kummer unter 116 111 sowie Online-Angebote wie Krisenchat, Jugendnotmail oder U25 zur Verfügung.

Womit aber schon jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann: „Über das Thema sprechen. Nur so erreicht man eine Enttabuisierung, wodurch Betroffene besser die Scham verlieren und sich anderen gegenüber öffnen können“, rät Splett. „Eine Depression ist oft ein längerer Prozess. Je früher ich als Betroffene darüber spreche, desto besser.“

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