An Rhein und Ruhr. Ein Experte erklärt, was die Gründe dafür sind - und warum Schulklassen ruhig mal zusammen in die Pommesbude gehen sollten.

Es ist der Albtraum aller Eltern: Das eigene Kind hört plötzlich auf zu essen, wird immer dünner, so lange, bis kein Weg mehr an einem Klinikaufenthalt vorbeiführt. Seit 2019 haben in Deutschland immer mehr Eltern genau diesen Albtraum erlebt. Im Rahmen der Coronapandemie ist die Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen stark gestiegen. Redakteurin Friederike Bach hat darüber mit Dr. Nikolaus Barth gesprochen. Er leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik Bedburg-Hau.

Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit Essstörungen hat sich in den letzten 20 Jahren immer auf einem ähnlichen Stand bewegt. Im Laufe der Coronapandemie gab es aber einen sprunghaften Anstieg der Zahlen. Warum?

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Essstörungen durch verschiedene Faktoren entstehen. Ob jemand zum Beispiel eine Anorexie (Magersucht) entwickelt, hat nie nur einen Grund. Um den Zusammenhang mit der Coronapandemie zu verstehen, muss man sich die verschiedenen Faktoren also zunächst einmal genauer anschauen. Ein Baustein kann zum Beispiel der Druck von außen sein. Die Betroffenen denken beispielsweise: Diese Models sind alle so dünn, ich möchte auch so aussehen.

Also sind Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“ schuld? Oder Videos, die Jugendliche auf TikTok oder Instagram sehen?

Nein, das kann man so nicht sagen. Nur weil eine Jugendliche „Germany’s Next Topmodel“ schaut, entwickelt sie noch lange keine Essstörung. Aber die in der Sendung vermittelten Vorbilder können für die Betroffene ein Mitauslöser sein. Ein weiterer Faktor sind auch die neu hinzugekommenen Erfahrungen in der Pubertät. Da sind die Gleichaltrigen für Jugendliche auf einmal viel wichtiger als die Eltern. Auf der Suche nach der eigenen Identität vergleichen sie sich oft untereinander. Wenn Jugendliche da unter Druck geraten und der Vergleich mit anderen sie stresst, kann das für die Betroffenen existenzielle Krisen auslösen. Dieser Druck innerhalb einer Gruppe von Gleichaltrigen – wir nennen das Peergroup-Effekt - kann bei der Entstehung von Anorexia Nervosa eine hohe Relevanz haben.

Essstörungen bei Jugendlichen in NRW

Im Jahr 2022 wurden in Nordrhein-Westfalen laut Statistischem Landesamt 1358 Kinder und Jugendliche aufgrund einer Essstörung stationär behandelt. Im Jahr 2019 waren es noch 844 – ein Anstieg also von über sechzig Prozent innerhalb weniger Jahre. Im Jahr 2021 lag die Zahl sogar noch höher. Damals wurden 1435 Kinder und Jugendliche wegen einer Essstörung stationär behandelt.

Es gibt viele verschiedene Essstörungen. Am bekanntesten ist die Anorexia Nervosa, umgangssprachlich Magersucht genannt. An ihr erkranken etwa 14 von tausend Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens. Jungen und Männer sind deutlich seltener betroffen..

Gibt es auch Faktoren, die nichts mit dem Äußeren zu tun haben?

Man weiß, dass Menschen, die zu Depressivität neigen, öfter an Anorexie erkranken. Auch emotional belastende Situationen können ein Risikofaktor sein. Für viele Jugendliche spielt es auch eine Rolle, dass sie in der Kontrolle ihres Essverhaltens etwas gefunden haben, das sozusagen ihr persönliches Ding ist, also etwas nur für sie selbst. Und schließlich gibt es auch Jugendliche, die fast unbemerkt in eine Essstörung rutschen, zum Beispiel durch eine schwere Grippe oder eine Magen-Darm-Erkrankung. Der Grund: Während einer akuten körperlichen Erkrankung isst man oft weniger. Möglicherweise verliert man ein wenig Gewicht. Und dann kann unter Umständen ein interessanter Effekt einsetzen: Es ist biologisch bewiesen, dass man innere Anspannung durch Gewichtsabnahme regulieren kann. Es kann also sein, dass man etwas abgenommen hat und plötzlich merkt: Das tut mir ja gut. Wenn dann zu Beginn dieser Entwicklung noch jemand sagt: „Du hast ja abgenommen, das sieht toll aus!“, dann habe ich zusätzlich einen Verstärker für dieses Gefühl. Es gibt Betroffene, bei denen sich das verselbstständigt, und die so, zunächst unbemerkt, in die Essstörung rutschen.

All diese Faktoren und Situationen gab es aber ja auch schon vor der Coronapandemie.

Das stimmt. Aber einige Faktoren, die zu einer Anorexie führen können, findet man in der Coronazeit verstärkt wieder. Das ist vermutlich der Grund, warum die Zahlen in dieser Zeit so angestiegen sind. Ein Beispiel: Soziale Zurückgezogenheit, Einsamkeit und daraus folgende depressive Momente werden eine große Rolle gespielt haben. Hinzu kam, dass viele Menschen während der Coronapandemie angefangen haben, Sportprogramme und Workouts zu machen. Auch darüber sind einige in die Anorexie gerutscht. Und auch die völlig neuartige Situation von fehlender Struktur hat wohl eine große Rolle gespielt. Personen, die an Anorexie erkranken, sind häufig sehr strukturiert. In der Coronapandemie sind im Alltag aber viele Strukturen weggefallen. Manche haben versucht, sich das über die Kontrolle des Essverhaltens zurückzuholen. Und schließlich – übrigens auch schon vor der Coronapandemie - hat die große Gesundheitswelle beim Thema Ernährung zu einem Peak bei den Essstörungen geführt. Denn auch das macht Druck, wenn ich immer das Gefühl habe, ich muss mich ausschließlich gesund ernähren.

Das spiegelt sich auch in einer Studie wider, die kürzlich ergeben hat: Wir Deutschen essen immer unentspannter. Und wir lassen uns von immer mehr Faktoren unter Druck setzen: Unser Essen soll gesund sein, vielleicht vegan, am besten bio und regional und bitte nicht in Plastik verpackt…

Diese Trends sind auf jeden Fall ein Risikofaktor für Essstörungen, auch wenn der Großteil der Bevölkerung all diese Trends natürlich nur vorübergehend mitmacht und keine Essstörung entwickelt. Aber in manchen Fällen kann es eben schon zu einer Übersteigerung kommen. Und eine Hyperfokussierung aufs Essen ist nie gut.

Dr. Nikolaus Barth leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik Bedburg-Hau.
Dr. Nikolaus Barth leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik Bedburg-Hau. © NRZ | Friederike Bach

Wie kommen wir denn aus dieser Fokussierung wieder raus? Und was ist aus Ihrer Sicht eine gute Präventionsarbeit beim Thema Essstörungen?

Ich finde, man müsste es schaffen, dass Essen wieder mit einer größeren Natürlichkeit gelebt wird. Natürlich ist es wichtig, Kinder in puncto gesunde Ernährung zu erziehen und das Thema auch in der Schule zu behandeln. Aber genauso gut wäre es, zum Beispiel einfach mal zusammen in die Pommesbude zu gehen. Das wäre auch etwas, das man als Lehrkraft super als Präventionsprogramm mit einer Klasse machen könnte. Dann lernen die Jugendlichen: Man darf auch mal eine ungesunde Pommes essen, es genießen und es passiert nichts Schlimmes.

Was können Eltern tun, um ihren Kindern ein gesundes Essverhalten zu vermitteln?

Man sollte das Essen nicht zu einem so großen Thema machen. Natürlich sollte man Wert auf eine ausgewogene Ernährung legen. Aber man sollte auch den Genuss in den Vordergrund stellen.

Viele Eltern legen heute großen Wert darauf, ihre Kinder zuckerfrei zu ernähren. Was halten Sie von diesem Trend?

Nicht viel. Natürlich ist Zucker im Übermaß nicht gut und man sollte immer aufpassen, dass Kinder ausgewogen essen. Aber das sollte keine extremen Formen annehmen oder zu strikten Verboten führen.

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Was können Eltern und Lehrkräfte tun, wenn sie das Gefühl haben, dass das eigene Kind oder eine Schülerin eine Essstörung entwickelt hat?

Offensiv damit umgehen! Als Eltern sollte man sein Kind darauf ansprechen und sich schnell professionelle Hilfe holen. Als Lehrkraft sollte man die Eltern des betroffenen Kindes einladen. Denn eines ist ganz wichtig: Bei der Anorexie muss man möglichst früh eingreifen. Wenn die Betroffenen in der Folge zu stark mit dem Gewicht heruntergehen, dann kann die Krankheit schnell lebensbedrohlich werden. Außerdem ist das Risiko bei einem starken Untergewicht sehr groß, dass die Erkrankung sich chronifiziert, wenn man zu lange abwartet.

Was mache ich, wenn mein Kind keine Therapie machen möchte?

Man sollte da als Eltern sehr klar und entschieden sein. Der Widerstand der betroffenen Jugendlichen hinsichtlich einer Behandlung oder auch erstmal nur für eine Beratung ist meist enorm groß. Sehr schwer erkrankte Betroffene sind zudem oft nicht mehr in der Lage, Einsicht in die Notwendigkeit einer Behandlung zu zeigen, weil auch das Gehirn sich durch die Anorexie vorübergehend verändern kann. Denn weil es zu einem großen Teil aus Fettgewebe besteht, kann das Gehirn sich durch die Anorexie in seiner Struktur verändern. Eltern sollten aber trotz allen Widerstandes klar intervenieren und sich Hilfe holen, mutig sein.

Hier finden Betroffene Hilfe

Betroffene oder Angehörige finden bei verschiedenen Stellen Hilfe und Beratung zum Thema Essstörungen. Sie können sich telefonisch an niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater/innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen wenden, oder aber direkt an die LVR-Kliniken:

LVR-Klinik Bedburg-Hau: 0 28 21/81 34 -01 oder -02

LVR-Klinik Bedburg-Hau, Standort Moers: 0 28 41/16 94 17 oder 0 28 41/16 94 18 01

LVR-Klinik Bedburg-Hau, Standort Geldern:  0 28 31/13 33 20 0 oder 0 28 31/13 33 21 3

LVR-Universitätsklinikum Essen: 0201/8707467

Weitere Beratungsmöglichkeiten und Informationen gibt es auch bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.