Essen. Jonathan Thomas ist 17, politisch interessiert, und hat das erste Mal gewählt. Wir waren beim ersten Urnengang dabei
Natürlich, sagt Jonathan Thomas, sei er ein wenig aufgeregt. Es ist sein erstes Mal. Der junge Mann sitzt im Wintergarten seiner Eltern, die Sonne scheint warm auf den reichhaltig gedeckten Frühstückstisch. Es gibt Kaffee, Brötchen, Aufschnitt, Marmelade und Labaniye, eine arabische Joghurtspezialität. Die Familie stammt aus dem Irak, Jonathan ist in Deutschland geboren. Heute wird er wählen gehen. Er ist einer von 305.000 Erstwählern in Nordrhein-Westfalen.
Jonathan, 17, besucht ein Gymnasium im Essener Süden. Er sagt von sich, er sei politisch interessiert. „Ich informiere mich meinem Alter entsprechend über Politik.“ Heißt konkret: Er durchforstet die sozialen Medien. In der Schule seien die Europawahlen leider nicht behandelt worden. Stattdessen sei im Fach Sozialwissenschaften das Standard-Programm abgespult worden. Wie ist ein Sozialstaat aufgebaut? Was ist Staatsverschuldung? Wie funktioniert das Steuersystem? „Ich hätte mir gewünscht, dass mehr zu Europa gemacht wird.“
Jonathan: „Es ist ein Privileg, wählen zu dürfen“
Warum er wählen geht? Jonathan wirkt etwas erstaunt über die Frage: „Es ist ein Privileg, wählen zu dürfen“, sagt er, und diese erstaunlich erwachsen anmutende Erkenntnis dürfte mit der Geschichte seiner Familie zusammenhängen. Vater Shairzid ist Mitte der neunziger Jahre aus dem Irak nach Deutschland geflohen. Er hatte für die irakische Opposition gegen Saddam Hussein gearbeitet. Als der irakische Diktator 1996 in innerkurdische Konflikte im Norden des Landes eingreift und in die eigentlich durch eine Flugverbotszone geschützte Region einmarschiert, muss Shairzid Thomas das Land verlassen.
Mittlerweile ist der Vater eingebürgert. Er sagt, er habe den Eindruck, dass viele Deutsche die Demokratie nicht richtig wertschätzen. „Vielleicht liegt es daran, dass die heutige Generation nicht darum kämpfen musste, sondern die Demokratie geerbt hat.“ Auf seinen Sohn hat diese Einstellung abgefärbt. Jonathan wundert sich, dass Politik bei vielen seiner Mitschüler auf wenig Interesse stößt. Wer von ihnen überhaupt wählen gehe, gebe die Stimme häufig ab, ohne sich intensiv mit den jeweiligen Parteien beschäftigt zu haben. „Die innere Tiefe fehlt.“
Die Europawahlen
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Als sie in seiner Schule jüngst eine Ü-16-Wahl abgehalten haben, da war die CDU ganz vorne, gefolgt von den Grünen, die AfD landete auf dem fünften Platz. Jonathan kann mit den rechten Europaskeptikern nichts anfangen. „Europa sollte noch enger zusammenwachsen. Ich bin für mehr Europa. Man sollte europäischer, globaler denken, nicht nationalistisch.“
Allerdings sagt er, er sei für strengere Asylregeln, weil sich „leider nicht alle gut integrieren“. Jonathan wünscht sich außerdem Frieden im Krieg zwischen Russland und der Ukraine, ein Ende der Sanktionen gegen Moskau und dass mehr für den Umweltschutz und gegen den Klimawandel unternommen wird. Schwierige Entscheidung. Jonathan hat viel nachgedacht.
Vor den Wahlen haben sie in der Familie Thomas beim Frühstück und Abendbrot oft über Politik diskutiert. „Ich habe mir außerdem die Wahlprogramme der Parteien angeschaut und den Wahl-O-Mat genutzt. Das hat Einfluss auf meine Entscheidung gehabt.“ Wem er seine Stimme geben will, sagt er auch, aber das soll in der Öffentlichkeit nicht publik werden. „Wahlgeheimnis.“ Er lächelt. Ob es richtig war, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken? Er zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, es macht keinen großen Unterschied, ob man 16 oder 18 ist.“
Es ist kurz nach halb zwölf, als sich die Familie auf den Weg macht. Vater Shairzid, Mutter Salwa, Jonathan und seine Schwester Anett, die schon einmal wählen durfte. Ein paar Meter die Straße hoch, dann ist das Wahllokal erreicht, ein Büro der DJK Heisingen. Jonathan Thomas nestelt die Wahlbenachrichtigung aus der Tasche, atmet einmal tief durch, geht rein.
Als die vier Wahlhelfer hören, dass er zum ersten Mal wählt, freuen sie sich sichtlich. Er nimmt den Stimmzettel, geht in die Wahlkabine, wirft den Zettel in die Urne. Die Wahlhelfer klopfen applaudierend auf die Tische. „Hat sich schon ziemlich gut angefühlt“, sagt Jonathan nach seinem ersten Mal.