Duisburg. Das Lehmbruck Museum in Duisburg zeigt „The Fury“ von Shirin Neshat. Wieso die Videoarbeit der iranischen Künstlerin so bewegend ist.
Auf der linken Seite steht sie: eine Frau im Paillettenkleid, die sich ihre Augen dunkel schminkt. Dann beginnt sie zu tanzen. Für ihn? Denn auf der rechten Seite steht er: ein Mann in Soldatenuniform, der langsam eine Zigarette raucht. Dabei schaut er, oder besser, starrt er. Auf sie? Es ist eine alles einnehmende, geradezu skulpturale Videoarbeit, die sich auf den beiden Leinwänden in der Glashalle des Lehmbruck Museums abspielt. „The Fury“ ist der neuste Teil der Reihe „Sculpture 21“, die in diesem Jahr ihr zehntes Jubiläum feiert. Und dass sie dafür ausgerechnet die iranische Künstlerin Shirin Neshat gewinnen konnte, freut Direktorin Dr. Söke Dinkla ganz besonders. Immerhin gehört sie „zu den international bedeutendsten Künstler*innen der Gegenwart“, wie sie betont. Dennoch lässt es sich die in New York lebende Künstlerin nicht nehmen, bei der Vorstellung ihrer raumgreifenden Installation in Duisburg dabei zu sein. Nunja, zumindest virtuell.
„The Fury“, das bedeutet auf Deutsch „die Wut“ oder auch „der Zorn“. Eine Emotion, die angesichts der politischen Lage in ihrem Heimatland Iran mehr als verständlich ist. Shirin Neshat nickt. Noch immer lebt dort ihre Familie, auch ihre Mutter. Es ist „eine individuelle und eine kollektive Wut“, erklärt sie auf Englisch. „Aber du kannst nicht dauerhaft damit leben.“ Vielleicht muss die Wut deshalb raus, „die Arbeit verkörpert einige meiner Emotionen“, sagt sie. Schon in früheren Arbeiten hat sie sich mit dem weiblichen Körper beschäftigt. So heißt eine ihrer ersten Fotoserien „Women of Allah“. Die Schwarz-Weiß-Bilder zeigen bewaffnete Frauen im bodenlangen Tschador, auf deren Haut persische Gedichte geschrieben sind. Ja, das wirkt verstörend, sogar bedrohlich. Doch genau diese Ambivalenz, hier von Gewaltbereitschaft auf der einen und Schönheit auf der anderen Seite, „das ist, was Shirin Neshats Werk auszeichnet“, erklärt Dr. Söke Dinkla.
Sexuelle Ausbeutung von Frauen
Die Künstlerin Shirin Neshat
Shirin Neshat wurde 1957 im Iran geboren und lebt heute in New York. Die Künstlerin hat bereits zahlreiche Preise gewonnen. So hat sie u.a. 1999 für „Rapture“ und „Turbulent“ den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig sowie 2009 für „Women Without Men“ den Silbernen Bär bei den Filmfestspielen von Venedig für die beste Regie erhalten.
Unter dem Titel „Sculpture 21st” präsentiert das Lehmbruck Museum seit 2014, dem 50. Geburtstag des Museums, wechselnde Positionen zur Skulptur des 21. Jahrhunderts. Die aktuelle Installation „The Fury“ in der Glashalle des Lehmbruck Museums wird am Donnerstag, 16. Mai, um 19 Uhr eröffnet und ist dann bis zum 25. August zu sehen.
So steht auch in „The Fury“ die Ästhetik gegenüber der Brutalität. Die Videoarbeit geht weiter. Die Frau, eine junge Iranerin, läuft über eine Straße in Brooklyn, vorbei an Eisverkäufern, Bauarbeitern, Schachspielern. Sie alle starren sie an. Szenenwechsel. Die Frau steht nur in Unterwäsche in einer Industriehalle, vor ihr mehrere Soldaten. Sie alle rauchen. Und sie alle starren sie an. Dann beginnt sie zu tanzen. Sind das auf ihrem nackten Körper etwa blaue Flecke? Blutige Striemen? Die Frau fällt zu Boden, kann sich dann aber wieder aufrichten... unter den Blicken der Männer. Es ist eine fiktionale Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht: die sexuelle Ausbeutung von Frauen als politische Gefangene. Viele von ihnen, die schwerer Folter, sexuellen Übergriffen und sogar Vergewaltigungen ausgesetzt waren, können sich auch nach ihrer Entlassung emotional nicht von dem Trauma der Haft erholen und begehen häufig Selbstmord. Weil immer wieder diese Bilder in ihrem Kopf auftauchen.
Und so stellt sich auch beim Schauen des Videos die Frage: Was ist Realität? Was Illusion? Und welche Rolle nehmen die Zuschauenden ein? „Man leidet mit der Protagonistin mit“, sagt Dr. Söke Dinkla. Schließlich ist die unbekleidete Frau den stechenden Blicken der Männer schutzlos ausgeliefert. „Aber die Arbeit wird im Iran auch als Ermutigung verstanden“, betont sie. „Es ist nicht politisch im eigentlichen Sinne, aber es hat eine politische Wirkung.“ Denn so bedrückend der Beginn ist, so erleichternd ist das Ende. Die junge Iranerin entkommt den Erinnerungen an die Gewalt und feiert den Befreiungsschlag auf der Straße in Brooklyn. Sie tanzt für niemanden, nur für sich, aber gemeinsam mit den Eisverkäufern, Bauarbeitern, Schachspielern. Die Arbeit beleuchtet ein gesellschaftliches Problem, „Machtmissbrauch gibt es überall“, betont Shirin Neshat, gleichzeitig ist es aber auch ein intimes Thema. „Frauen wie sie sind traumatisiert, fühlen sich schuldig und dreckig.“
Deshalb hatte Shirin Neshat bei der Präsentation in Duisburg auch erst so ihre Bedenken... Denn normalerweise ist ihre Videoarbeit im Dunklen, wie in Kinosälen, zu sehen, nicht im Hellen, wie nun eben in der Glashalle. Und von dort aus strahlt sie erstmals auf zwei monumentalen Bildschirmen „direkt in die Stadt“, sagt Dr. Söke Dinkla. Darüber ist die Künstlerin nun geradezu „stolz“, wie sie lächelnd während des Videocalls erklärt. Und ja, vielleicht schafft sie es noch, von New York nach Duisburg zu reisen, um ihre eigene Arbeit in dieser besonderen Form zu sehen. Bis zum 25. August hat sie dafür noch Zeit.