An Rhein und Ruhr. Die Wahlbeteiligung bei der NRW-Wahl lag 2022 auf einem negativen Rekordniveau. Nicht überraschend, sagt ein Politologe der Uni Rhein-Waal.
Die historisch niedrige Beteiligung von nur 55,5 Prozent an der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat Besorgnis ausgelöst. „Die dramatisch niedrige Wahlbeteiligung verweist auf erschreckende Defizite unserer Demokratie und ist ein ernstes Warnsignal“, sagte DGB-Landeschefin Anja Weber. „Wir müssen uns um unsere Demokratie und Chancengleichheit kümmern, und Politik muss die Schwächsten der Gesellschaft endlich wieder in den Fokus rücken und die soziale Spaltung überwinden“, forderte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbund NRW. Julia Wenzel ist geschockt über die geringe Wahlbeteiligung. Die Grünen-Landtagsabgeordnete aus Duisburg will sich aber nicht entmutigen lassen. Angetreten ist sie im Duisburger Süden, wo die Wahlbeteiligung von 63,9 bei den Wahlen 2017 auf 54,1 gesunken ist. Dies sind zwar noch einige Prozent mehr als die Statistik im Duisburger Norden aufweist, wo nur noch 38 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben (2017 waren es noch 53,2 Prozent). Aber dennoch, so Jule Wenzel: „Wir beobachten seit Jahren den Trend einer geringeren Wahlbeteiligung.“
Und die ist nicht nur ein Problem der Großstädte. Auch wenn die Wahlbeteiligung in Hünxe (64,8 Prozent), Alpen (65 Prozent), Issum (61,5 Prozent) oder Schermbeck (64,5 Prozent) über dem Landesschnitt lagen, so verzeichneten auch diese Kommunen deutliche, mituntern zweistellige Verluste bei der Wahlbeteiligung.
Fast eine Million Wahlberechtigte weniger als 2017 haben Stimme abgegeben
Insgesamt haben fast eine Million Wahlberechtigte weniger ihre Stimme in NRW abgegeben, im Vergleich zur vorherigen Landtagswahl 2017. Für den Politikprofessor Jakob Lempp von der Hochschule Rhein-Waalist das „historische Tief“ nicht unbedingt überraschend: „Politikverdrossenheit gibt es schon seit langem“, sagt er auf NRZ-Anfrage. Eher wenig bekannte Spitzenkandidaten seien dafür auch ein Erklärungsfaktor. „Das gute Wetter vielleicht ein zweiter.“ Grundsätzlich gelte aber auch: „Die Wahlbeteiligung ist bei Landtagswahlen immer niedriger als bei der Wahl zum Deutschen Bundestag.“ Zu befürchten sei außerdem, dass sich ein immer größerer Teil der Menschen ganz aus der Gesellschaft zurückzieht, sich nicht zugehörig fühlt und deshalb auch nicht den Eindruck hat, diese Wahlen gingen sie etwas an. „Sicherlich spielen auch veränderte Mediennutzungsgewohnheiten bei jungen Menschen eine Rolle“, nennt Lempp Gründe.
Zudem hätten bundespolitische Themen die diesjährige Landtagswahl in NRW überschattet: Die Folgen des Krieges für Deutschland wie die Energieversorgung, die anziehende Inflation und die Bekämpfung der Coronapandemie. Bei all diesen Themen spielten landespolitische Entscheidungen eine eher nachrangige Rolle. „Das hat vielleicht dazu beigetragen, dass weniger Menschen sich für die landespolitischen Themen, etwa bei der Bildungspolitik, interessiert haben. Hinzu kommt, dass auch einige der Politiker aus Berlin, wie zum Beispiel Bundeskanzler Olaf Scholz, zwar im Wahlkampf präsent waren, aber offenbar nicht als Zugpferde wahrgenommen wurden“, lautet die Einschätzung des Politikprofessors. Eine Folge des Krieges war auch die große Zahl von Flüchtlingen, die aus der Ukraine nach NRW gekommen sind. „Viele Menschen haben sich in der Flüchtlingshilfe engagiert und so ist es beispielsweise der AfD nicht gelungen, das Flüchtlingsthema für sich auszunutzen.“
Besonders einschlägige Rückgänge bei der Wahlbeteiligung gab es in Duisburg
Besonders einschlägige Rückgänge bei der Wahlbeteiligung an Rhein und Ruhr gab es beispielsweise in Essen, wo in einigen Stadtteilen nur 35 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben, oder auch im Duisburger Norden. „Das ist für die Demokratie nicht gut“, sagt Frank Börner. Der wiedergewählte SPD-Landtagsabgeordnete aus dem Duisburger Norden sieht darin ein Indiz dafür, „dass viele Leute weit weg vom politischen System sind“. Wenn eine alleinerziehende Mutter noch einen Job hat, kaum wisse, wie sie durch den Tag kommt, dann habe sie keine Zeit und vielleicht auch kein Interesse sich damit zu beschäftigten, wen sie wählen soll. Diese Menschen haben „andere Sorgen“, vermutete auch Jule Wenzel. „Dabei ist es unsere Aufgabe als gewählte Repräsentanten, uns um die Lebensverhältnisse zu kümmern. Wir müssen den Menschen vor Ort mehr Gehör verschaffen.“
Dabei seien die Gespräche, die Jule Wenzel und Frank Börner an den Infoständen mit den Bürgern geführt haben, gut gewesen. Und: „Sehr konstruktiv, selbst wenn sie kritisch waren“, so Börner. Ein Problem sieht er auch in der Bildung. „Wenn Geschichte in den Schulen als erstes ausfällt, Sozialwissenschaften vom Lehrplan gestrichen werden, lernen die Jugendlichen auch nicht, dass man Bestandteil eines demokratischen Systems ist. In einer Demokratie ist man nicht alleine stark.“ Heute aber würden sich immer mehr Menschen anderen, kleineren Gruppen in den sozialen Netzwerken zuwenden. Der Trend zur Vereinzelung sei für die Demokratie gefährlich. Hinzu komme, dass bestimmte Entscheidungen von der Regierung besser erklärt werden müssten. Zum Beispiel die 300 Euro Energiekostenpauschale, die Arbeitnehmer bekommen. Rentner aber nicht. „Das kann ich nicht erklären, weil die die gleichen Heizkosten haben.“
Politologe aus NRW: Bürger dürfen nicht den Eindruck haben, dass es egal ist, was bei der Wahl rauskommt
Für die Parteien seien das große Herausforderungen, sagt auch Politikprofessor Lempp. Möglicherweise brauche es in Gebieten mit vielen Menschen mit Migrationshintergrund eine andere Art der Ansprache als in ländlichen Gebieten. „Das Wichtigste ist, dass die Bürger nicht den Eindruck haben, es sei egal, was bei einer Wahl herauskommt.“ Wichtig sei, dass sich die Bürger mit den Kandidaten identifizieren können, dass Politik „nahbar und authentisch“ bleibt, und dass Themen im Wahlkampf aufgegriffen werden, die aus Sicht der Bürger relevant sind. Allerdings: „Ein Stück weit ist das auch ein Kampf gegen Windmühlen. Manch einem ist auch bei spannendem Wahlkampf um wichtige Themen einfach der Sonntagsausflug wichtiger als der Gang zur Wahlkabine.