Den Haag. Die Namen von Niederländern, die mit deutschen Besatzern im Krieg kollaboriert haben, sind nun online einsehbar. Angehörige protestieren.

Prinz Bernhard (†93) erlebte seine peinliche Bloßstellung nicht mehr. „Ich kann“, versicherte der Großvater von König Willem-Alexander (57) kurz vor seinem Tod 2004, „mit der Hand auf der Bibel erklären: Ich war nie ein Nazi. Ich habe nie Mitgliedsbeiträge bezahlt, ich habe nie einen Mitgliedsausweis gehabt.“ Nun ja.

Heute weiß man, dass der aus Deutschland stammende Prinz gelogen hat. 2023 fand ein Historiker im königlichen Hausarchiv Bernhards alten NSDAP-Mitgliedsausweis. Der Beweis: Der schillernde Naturschützer, der sich stets als Hollands oberster Widerstandskämpfer präsentiert hatte, war ein Sympathisant der Nationalsozialisten. Ausgerechnet.

Hinterbliebene wissen wenig über Nazi-Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern

Acht Jahrzehnte sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Nun könnten weitere prominente Altnazis enttarnt werden. Denn die Niederländer treiben die Aufarbeitung voran – und öffnen ihr größtes Kriegsarchiv. Es enthält Namen derer, die im Verdacht standen, mit der deutschen Besatzungsmacht zusammengearbeitet zu haben und deswegen nach 1945 vor Gericht standen. Daten von rund 425.000 Menschen sind ab sofort online einsehbar. Doch manche Angehörige protestieren gegen die Veröffentlichung der Kollaborateurslisten.

Mai 1945: Menschen bejubeln in Utrecht die ersehnte Ankunft der alliierten Soldaten. 
Mai 1945: Menschen bejubeln in Utrecht die ersehnte Ankunft der alliierten Soldaten.  © dpa | Uncredited

Die Prozessakten lagern in Den Haag im Centraal Archief Bijzondere Rechtspleging, was soviel bedeutet wie Zentralarchiv der Sondergerichtsbarkeit. Bislang konnten sie nur auf Anfrage eingesehen werden. Das war kompliziert, die Archivare verlangten einen schriftlichen Antrag mit nachvollziehbarer Begründung. Nun können Menschen vom heimischen Computer aus auf der Plattform „oorlogvoorderechter.nl“ (Der Krieg vor Gericht) die Namen ihrer Großeltern oder Eltern in eine Suchmaske eingeben, um zu erfahren, ob sie – in welcher Weise auch immer – mit den Nazis zusammengearbeitet haben.

Autor warnte vor seinem Tod eindringlich vor Veröffentlichung der Kriegsakten

„Kollaboration ist jahrelang ein Tabuthema gewesen“, sagt der Historiker Edwin Klijn, Leiter des Digitalisierungsprojekts. „Die Diskussion im Anschluss an die Öffnung des Archivs wird hoffentlich auch zu einer öffentlichen Debatte über dieses heikle Thema führen.“ Während etwa der Centraal Joods Overleg, vergleichbar mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, die Öffnung begrüßt, fürchten Kritiker, dass die sensiblen Informationen zur Belastung für die Familien der Betroffenen werden. Hinterbliebene wissen vielfach gar nichts von den Ermittlungen gegen ihre Angehörigen.

Einer, die die Digitalisierung der Polizeiberichte, Zeugenaussagen und Fotos abgelehnt hat, war der Autor Sytze van der Zee, der im November im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung „Het Parool“ hatte die Kriegsvergangenheit seiner Familie erforscht und darüber ein Buch veröffentlicht. Er beschrieb darin, wie schmerzhaft es gewesen sei, zu erfahren, dass sein Vater ein niederländischer Nazi gewesen war. Vor seinem Tod sagte van der Zee über die geplante Plattform: „Damit wird eine Büchse der Pandora geöffnet.“ In den Akten stünden Dinge, die „schrecklich und ekelhaft“ seien – „Dinge, die Menschen getan haben, um zu überleben, Dinge, die man nicht über seine Großmutter wissen möchte.“ Er bat darum, „noch 50 Jahre oder so“ zu warten.

„Judenjäger“ durchstreiften die Niederlande

Aufgrund solcher Bedenken wurden zunächst nur Namen online zugänglich gemacht – nicht, wie ursprünglich geplant, die kompletten Akten. Die Plattform liefert den Geburts- und Wohnort sowie die Information, welche Behörden zu der Person ermittelt haben. Wer mehr erfahren will, muss weiterhin persönlich in Den Haag erscheinen.

Dass auch Niederländer Schuld auf sich geladen haben, enthüllte bereits 2002 das Buch „Kopfgeld: Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden“ des Utrechter Historikers Ad van Liempt (75). Er beschrieb darin ein Netzwerk niederländischer privater „Judenjäger“, die für jede Person, die sie der Polizei auslieferten, eine Belohnung erhielten. Bis 1945 wurden rund 103.000 Jüdinnen und Juden aus den Niederlanden ermordet. Das entspricht rund drei Viertel der damaligen jüdischen Bevölkerung.

Der ambivalente Bernhard hatte sich trotz seiner Nazi-Sympathien nach der Besetzung seiner neuen Heimat durch Deutschland 1940 als loyaler Niederländer erwiesen. Er folgte seiner Schwiegermutter Königin Wilhelmina (1880–1962) ins Exil nach London und half von dort aus bei der Organisation der Streitkräfte. Heute erinnern sich die Niederländer an den gebürtigen Thüringer als Skandalprinz und Schwerenöter. Aber das ist eine andere Geschichte.