Aus den Niederlanden. Das größte Kriegsarchiv der Niederlande mit sensiblen Daten wird online gestellt. Die Ankündigung löst unterschiedliche Emotionen aus.
Niederländer und Niederländerinnen können bald mit wenigen Klicks nachsehen, ob der eigene Vater, die Nachbarin oder der Arbeitskollege Kriegsverbrechen während des zweiten Weltkriegs begangen hat. Nach dem Krieg wurde im Rahmen einer Sonderjustiz in den Niederlanden gegen circa 300.000 Personen ermittelt. Sie wurden des Hochverrats, der NSB-Mitgliedschaft (Nationaal-Socialistische Beweging, in der Zeit von 1931-45) oder der Zusammenarbeit mit den Deutschen verdächtigt.
Ungefähr zwanzig Prozent von ihnen mussten sich vor einem Richter verantworten und wurden verurteilt. Das Centraal Archief Bijzondere Rechtspleging (CABR, dt. Zentralarchiv für besondere Rechtsangelegenheiten) wird eigenen Angaben zufolge all diese Ermittlungsakten, die aus fast vier Kilometer Papier bestehen, digitalisieren und online stellen.
Das größte Kriegsarchiv der Niederlande enthält unter anderem Mitgliedsausweise, Zeugenaussagen, Tagebucheinträge, Briefe oder Fotos. Bislang kann man diese Akten nur vor Ort in Den Haag einsehen, unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person inzwischen verstorben ist und man mit Geburtsdatum, Wohnort und Sterbeurkunde anreist. Dieses umständliche Verfahren wird sich ab dem 1. Januar 2025 ändern.
Kriegsarchiv Niederlande: Heikles Thema für Angehörige
Was eine gute Nachricht für interessierte Angehörige und Wissenschaftlerinnen ist, kann für Betroffene, die vielleicht noch nichts von der dunklen Vergangenheit ihrer Verwandten gehört haben, ein heikles Thema sein.
„In dem Archiv stehen Dinge, die man lieber nicht für alle abrufbar wissen möchte, sowohl für diejenigen, die schon ahnen, dass da etwas in der Familie war, aber auch für diejenigen, die davon überrascht sein werden“, sagt Jeroen Saris, Vorsitzender der „Werkgroep Herkenning‘‘ bei einer Diskussionsrunde Ende Oktober in Amsterdam. Die Organisation hilft Angehörigen von Menschen, die sich auf Seite der nationalsozialistischen Besatzer stellten.
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Zudem sei die Frage, „wie viele Personen, die im Archiv auftauchen, etwas Falsches getan hätten‘‘, da sie weder „vor Gericht gestellt oder bestraft wurden“, gibt Saris zu bedenken. So seien in der Vergangenheit auch immer wieder Kinder von vermeintlichen Kollaborateuren gemobbt worden. Gibt die Veröffentlichung der sensiblen Daten also bald neuen Anlass für schiefe Blicke und (Online-)Hass? Und welche Konsequenzen hat es, wenn dieses Wissen für alle zugänglich gemacht wird?
Balance zwischen Zensur und Privatsphäre
„Das sind alles Fragen, die uns beschäftigen‘‘, sagt Puck Huitsing. Sie ist Programmdirektorin bei „Netwerk Oorlogsbronnen“, einer Organisation, die hilft, das Archiv zu digitalisieren. Daher habe man einen Ethikrat gegründet, der sich mit den verschiedenen Interessenvertretungen zusammensetzt, um diese Dilemmata zu diskutieren und Lösungen zu finden.
„Wir hören allen aufmerksam zu, aber wir werden nicht für alles eine Lösung finden”, so Huitsing. Beispielsweise könnten Betroffene einen Antrag stellen, dass heikle Dokumente wie persönliche Briefe oder medizinische Daten nicht online gestellt werden sollen. Anhand von verschiedenen Kriterien würden die Anliegen geprüft.
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Ein Balanceakt zwischen Zensur und Privatsphäre. Fest stehe aber, dass alle Dateien eingescannt und digitalisiert werden. So habe sich in den Niederlanden lange die Vorstellung gehalten, dass es fast ausschließlich Widerstandskämpfer gegeben habe. Dieses Bild verschiebe sich langsam und auch das Projekt wolle zur Bewusstseinsbildung beitragen.
„Jeder hat in der Familie wahrscheinlich jemanden, der irgendwie einen Berührungspunkt mit einer dieser Personen im Archiv hatte. Wir wissen es nur oft nicht‘‘, so Huitsing. Eine weitere Frage, die das Team beschäftige: Wie viel Kontext das Archiv bei der Suche nach Informationen geben kann und sollte. Die Einträge sollen verschlagwortet und mit weiterführenden Erklärungen versehen werden.
Betroffene: Es geht ums Verstehen
Doch wo liegt die Grenze der Interpretation? Schriftsteller und Journalist Arend Hulshof hat dafür ein passendes Beispiel. So habe in einem Buch gestanden, dass der ehemalige Bürgermeister von Heerlen im Jahr 1943 Schilder gegen Juden und Jüdinnen aufstellen ließ. Die Informationen beruhten auf Dokumenten des Archivs. Doch an dieser Stelle habe der weitere Kontext gefehlt.
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So habe sich herausgestellt, dass sich der Bürgermeister erst nach einer Razzia in Maastricht zu dieser antijüdischen Maßnahme entschlossen hatte, um Ähnliches in seiner Stadt zu verhindern, erzählt Hulshof. So sei er „sehr froh über die Öffnung des Archivs“, da es Recherchen enorm vereinfache. Aber man solle aus den Informationen keine voreiligen Schlüsse ziehen. „Wir können noch viel über den Krieg lernen, wir müssen aber auch unsere Vorurteile ablegen“, appelliert Hulshof. Ihm zufolge würden Menschen noch zu oft in gut oder schlecht eingeteilt.
Mehr über die eigenen Eltern herausfinden
Das sieht Jeroen Saris ähnlich. Es gehe darum zu begreifen, was damals passiert sei. Das Archiv könne helfen, zu verstehen, was Menschen bewegt hat und wozu sie in der Lage gewesen sind, wenn sie unter Druck standen. So sei die Organisation der Betroffenen, die er vertritt, trotz der Bedenken für die Digitalisierung des Archivs, „denn und auch wenn einige sagen, dass es ein Recht auf Vergessen gibt, wiegt das Recht auf Wissen mehr.”
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Auch Saris hat eine persönliche Geschichte mit dem Thema. Er habe erst aus der Zeitung erfahren, dass sein Vater Mitglied der NSB war. „Als Nachkommen denkt man sofort, dass man schuldig ist, obwohl es die Eltern waren.“ Daher empfiehlt er anderen Betroffenen: „Probiert das Archiv aus. Besser auf Eigeninitiative, als dass es dann eine böse Überraschung gibt. Meine persönliche Empfehlung ist, dass es gut ist, mehr über die Eltern zu wissen.‘‘
„Wir können noch viel über den Krieg lernen“
Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt die Dokumentarfilmerin Marieke van de Winden, die in der Runde ihre Geschichte erzählt. Auch ihre Familie hatte ihre Vergangenheit vertuscht, erst bei der Beerdigung ihrer Mutter erfuhr sie zufällig, dass ihre Großeltern NSB-Mitglieder gewesen sind und wie belastend das für die Mutter gewesen sein muss. Van de Winden entschied sich, die aufwendige und zeitaufwendige Recherche im Archiv filmisch zu begleiten.
Dabei kam ans Licht, dass viele weitere Mitglieder ihrer Familie die NSB unterstützt haben. Eine schwierige Situation, aber die Informationen hätten der Dokumentarfilmerin geholfen, ihre Mutter und das komplizierte Verhältnis zu ihr im Nachhinein besser zu verstehen. „Meine Mutter kam aus einer anderen Generation, in der nicht viel gesprochen wurde. Manche sagen auch, dass für sie nach dem Krieg erst der Krieg begann“, so van de Winden.
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Vor der Veröffentlichung der Dokumentation litt die Drehbuchautorin unter Depressionen. Erst da sei ihr klar geworden, wie viel Angst und Emotionen auch noch in ihr steckten. Letztlich habe sie nur positive Reaktionen auf den Film erhalten. Es zeige aber, dass das Thema auch immer noch weitere Generationen betreffe und man für die Zukunft daraus lernen könne. „Das will ich an alle Nachkommen mitgeben: Wir können noch viel lernen über den Krieg. Es ist wichtig, über traumatisierte Eltern und Großeltern zu sprechen. Ich hoffe, dass wir dadurch alle weiser werden.‘‘