Hauptstadt Inside – Der Politik-Newsletter von Jörg Quoos
ein solches Chaos hat es im Bundestag lange nicht gegeben. Friedrich Merz ging 23 Tage vor der Wahl mit seinem „Zustrombegrenzungsgesetz“ wie ein Poker-Spieler „all in“ und hat – trotz Stimmen der AfD – vor aller Augen verloren.
Der Kanzlerkandidat der Union hat die politische Situation völlig falsch eingeschätzt. SPD und Grüne ließen sich natürlich nicht zur Zustimmung zu einem Gesetz zwingen, das Merz zuvor als „unverhandelbar“ erklärt hatte. Die FDP versuchte vergeblich zu vermitteln – und die eigene CDU/CSU-Fraktion war in der Abstimmung nicht geschlossen. Merz hat heute öffentlich dokumentiert, dass ihm in der eigenen Partei nicht alle folgen. Das ist für den Kanzlerkandidaten die bitterste Erkenntnis nach diesem verrückten Tag.
Für Beobachter war dieser 31. Januar eine fast unerträgliche Parteien-Nabelschau. Für Merz war er ein Desaster. Für SPD und Grünen die Chance, den Gegner zu demütigen, ohne die wahren Probleme anzugehen. Und wieder wurden die Falschen gestärkt. Schon zu dem Grinse-Selfie der AfD-Fraktion am Mittwoch nach der Zustimmung von Union und AfD hätte es nie kommen dürfen.
Meine Kolleginnen und Kollegen Julia Emmrich, Theresa Martus und Jan Dörner verfolgten im Bundestag für Sie die hektischen Krisensitzungen und schrieben sich im News-Blog die Finger wund. Ihr Bericht beschreibt einen denkwürdigen Tag. Was bedeutet das jetzt für Friedrich Merz und die Wahl in nur 23 Tagen? Lesen Sie dazu meinen Kommentar.
Wenn ich diesen Newsletter absende, habe ich viele Stunden heftigste Debatten im Bundestag gehört. Dabei fand ich erschreckend, wie wenig über Lösungen der Migrationsprobleme gesprochen und wie viel Zeit darauf verwendet wurde, den eigenen Vorteil zu suchen, den politischen Gegner herabzusetzen und zu beschimpfen. Nein, das war keine Sternstunde der Demokratie.
Angriff der Ex-Kanzlerin
Angela Merkel kokettiert gerne damit, dass sie nicht beabsichtigt, sich in den Wahlkampf einzumischen. Sie ist für die CDU nicht aktiv, den Ehrenvorsitz hatte sie schon 2022 dankend abgelehnt. Daher ist es bemerkenswert, dass sie sich 24 Tage vor der Wahl auf ihrer Homepage zu Wort meldete, um dem eigenen Kanzlerkandidaten Wortbruch vorzuwerfen.
Kurz vor der großen Chance der CDU, das Kanzleramt zurückzuerobern, ist das ein Frontalangriff, den sogar Merkel-Treue in der Partei als rücksichtslos empfinden. Für Selbstkritik an der gescheiterten Migrationspolitik fand Angela Merkel in ihrem langen Statement wie auch in ihrem Buch „Freiheit“ auf 736 Seiten, kein einziges Wort.
Ricarda Lang über ihre schwerste Entscheidung
Man erlebt es nicht oft, dass eine Politikerin oder ein Politiker mit einem schnellen Rücktritt klare Konsequenzen aus einer Niederlage zieht. Ricarda Lang, ehemalige Grünen-Chefin, hat im September 2024 genau das getan. Seitdem ist die ehemalige Parteivorsitzende wie verändert, gibt selbstkritische Interviews, hat stark abgenommen und spricht auch offen über ihre neue Achtsamkeit. Im Podcast „meine schwerste Entscheidung“ mit Julia Emmrich und Jochen Gaugele schildert sie die politisch spannenden Stunden des Rücktritts und wie es zu der Entscheidung kam. Wer sich für Politik interessiert, sollte unbedingt hier reinhören.
Geschlechterfeindliche Bemerkungen sollte man im Jahr 2025 lieber bleiben lassen, daher wunderte ich mich sehr, als unsere Chefdiplomatin Annalena Baerbock in der Bundestagsdebatte ganz undiplomatisch auf Unions-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei losging. Baerbock: „Dass Männer, wenn sie nicht mehr weiterwissen, mit dem Wort Lüge um sich werfen, bin ich ja schon gewohnt.“
Als Mann, der auch mal nicht weiter weiß und trotzdem niemanden der Lüge bezichtigt, werde ich jetzt nicht den Gleichstellungsbeauftragten des Bundestags einschalten, sondern hake das großzügig ab.
Ich wünsche Ihnen ein unaufgeregtes, erholsames Wochenende,
herzlich, Ihr