Oberhausen/Dinslaken. Seit Anfang des Jahres ist ein Kind aus Afghanistan verschwunden, das im Friedensdorf behandelt werden sollte. Die Hintergründe des Falls.
Rund 300 Kilometer entfernt von Oberhausen sorgte eine Polizei-Meldung Anfang Februar 2024 für Aufsehen und Erschütterung: Ein elfjähriger Junge wurde als vermisst gemeldet. Letztmals wurde er vor einer Klinik im thüringischen Gotha gesehen. Er war frisch operiert, trug noch Verbände an Fuß und Arm. Die Menschen in Thüringen waren besorgt. Kinder, die verschwinden, wecken schlimmste Befürchtungen.
Einen Monat später ergänzte die Polizei die Meldung. Vom Jungen fehlte weiterhin jede Spur. Diesmal allerdings gab die Behörde weitere Details bekannt: Dass er sich zur medizinischen Behandlung „im Rahmen einer humanitären Arbeit einer Hilfsorganisation“ im Krankenhaus aufhielt. Dass er zuvor auch im Raum Oberhausen war. Dass nicht auszuschließen sei, dass er von einer nahestehenden Person abgeholt wurde. Dass er womöglich mit einem Handy telefoniert hat, das ihm jemand geliehen haben könnte.
Was damals verborgen wurde: Der Junge stammt aus dem Friedensdorf.
Friedensdorf: Junge seit acht Monaten vermisst
Seit vielen Jahren fliegt der 1967 gegründete Verein Kinder aus Krisengebieten mithilfe von Spenden aus, um sie in Deutschland zu behandeln. So auch den seit Monaten vermissten Jungen. Im November 2023 fliegt er mit anderen Kindern und Jugendlichen von Afghanistan nach Deutschland.
Das Friedensdorf ist bei seiner Arbeit auf sogenannte Freibetten angewiesen. In Gotha wird ein Bett frei, der Junge kann dort kostenlos behandelt werden. Ehrenamtler halten in der Zeit Kontakt. Doch nach dem 3. Februar 2024 reißt der Kontakt ab. Denn der Junge ist nicht mehr da.
Birgit Stifter und Claudia Peppmüller sitzen heute in einem großen Büro in der Friedensdorf-Zentrale an der Lanterstraße in Dinslaken. Sie wirken gefasst und konzentriert. Die Geschichte, die sie erzählen, ist heikel für die Hilfsorganisation. Zum einen ist das Friedensdorf auf das Vertrauen der Menschen und Partnerorganisationen angewiesen, um den Kindern zu helfen. Zum anderen will die Hilfsorganisation keine Nachahmer animieren. Die Lage gerade in Afghanistan sei „katastrophal“. Die Menschen suchen viele Wege, um vor diesen Zuständen zu fliehen. Sie könnten sich Hoffnung machen, dass über das Friedensdorf die Flucht nach Deutschland gelingt. „Das funktioniert aber nicht“, warnt Stifter.
Friedensdorf Oberhausen geht von familiärem Hintergrund des Verschwindens aus
Das Friedensdorfteam ist überzeugt, dass der Junge mittels familiärer Verbindungen untergetaucht ist. Per Videotelefonie haben sie mit dem Vater des Jungen in Afghanistan gesprochen, später gab es auch ein persönliches Treffen in Baghlan. Der Vater habe gefasst reagiert, keineswegs geschockt, berichtet Peppmüller von dem Treffen. Auch Stifter ist überzeugt, dass der Vater nicht die Wahrheit sagt. Deshalb sagt sie mit Nachdruck in der Stimme: „Es hat niemand das Recht, einem Kind eine vermeintlich bessere Welt vorzugaukeln.“ Die Friedensdorfmitarbeitenden hätten dem Vater zu verstehen gegeben, dass sich ein Verwandter in Deutschland, sollte er daran beteiligt sein, der Kindesentziehung schuldig mache. „Auch der möglicherweise beabsichtigte Familiennachzug ist versaut“, sagt Peppmüller. Die Einreise ist nun nachweislich illegal. Die Behörden haben den Pass und die Fingerabdrücke des Jungen.
In der Videoschalte habe das Team gefleht, dass der Vater sagt, wenn er weiß, dass der Junge wohlauf ist. „Damit wir wenigstens wissen, wie es ihm geht“, sagt Peppmüller. Doch es gebe ein eisernes Schweigen. Der Vater ist der einzige Ansprechpartner, die Familie hat mehrere Kinder und ein großes verwandtschaftliches Netz, das bis nach Deutschland reicht. Die Behörden ermittelten deshalb auch in Bremen. „Die Ermittlungen laufen weiter und werden nicht eingestellt“, betont Stifter. Der Vater müsse auch mit regelmäßigen Fragen in Afghanistan rechnen. Dort arbeitet das Friedensdorf mit der Partnerorganisation Roter Halbmond zusammen.
Junge aus Afghanistan verschwunden: „Kinder wollen immer zurück zu Mama und Papa“
Die Ermittler sprechen davon, dass es keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gibt. Diese These wird auch dadurch unterstützt, was Friedensdorf-Leiterin Stifter resümiert. „Die ganze Sache ist eine große Enttäuschung.“ Man habe eine Verabredung mit den Eltern, mit den Organisationen vor Ort, „dieses Kind kommt zu euch zurück“. Stifter und Peppmüller ärgert, dass der Junge womöglich mit Versprechungen gelockt worden sein könnte. Denn in all den Jahren hätten sie trotz allen Leides kein Kind getroffen, das nicht zu seinen Eltern zurückwolle. „Die Kinder wollen immer zurück zu Mama und Papa. Die kommen damit nicht klar, dass sie von zu Hause weg sind.“
Peppmüller und Stifter unterstellen der Familie keine bösen Absichten. Seit der Machtergreifung der Taliban habe sich die Lage in Afghanistan massiv zugespitzt. Die hygienischen Bedingungen seien katastrophal, Überschwemmungen hätten Ländereien und Häuser zerstört, es herrsche großer Hunger. Viele internationale Hilfen wurden inzwischen eingestellt. „Diese Situation geht absolut zulasten der Zivilbevölkerung“, sagt Stifter. Vor dem Hintergrund griffen die Menschen nach jedem Strohhalm.
Doch auch die Arbeit des Friedensdorfes wird erschwert. Dass der Junge aus Afghanistan so schnell nach der Ankunft behandelt werden konnte, ist ein Glücksfall. Durch die Klinikreform, den Ukraine-Krieg und die allgemeine Preissteigerung habe sich die Zahl der Freibetten drastisch reduziert. Das Friedensdorf schätzt, dass ein Drittel weniger Kapazitäten für die Behandlung der Kinder bereitgestellt werden. Die Kinder kommen häufig mit Knochenentzündungen und sind auf Operationen angewiesen. In der Heimat müssen sie Jahre auf Hilfe warten. So wie der Junge aus Afghanistan, der nicht nur von seinen Brüdern und Schwestern vermisst wird.