Oberhausen. Lohnt es sich zu betteln? Und wie fühlt es sich eigentlich an, andere Menschen um Geld zu bitten? Wir haben es in der Innenstadt ausprobiert.
- Menschen, die in den Innenstädten betteln, empfinden einige Menschen als störend
- Wir wollten selbst wissen, wie man sich als Bettler fühlt und wagten einen Test
- Für zwei Stunden bat unser Redakteur in der Oberhausener Innenstadt andere Menschen um Geld
Durch den aufgerissenen Schlitz an meiner Hose sehe ich eine Gänsehaut. Ich fröstele, weil ein kalter Wind über die Einkaufsstraße zieht. Am Boden friert es sich mehr als auf der Höhe, auf der sich normale Menschen bewegen. Mein Hintern tut weh, ich wechsele die Position, aber das macht es nur kurz besser. Plötzlich klingelt es in meinem Becher, jemand hat Geld reingeschmissen. Ich will ihm nicht in die Augen sehen, lasse den Blick unten und nuschele ein „Danke“. Ich schäme mich. Dabei spiele ich doch nur den Bettler.
Es ist Mittwochvormittag in der Oberhausener Innenstadt. Die Einkaufsstraße krankt seit Jahren am Leerstand, trotzdem ist sie noch gut besucht. Die Menschen eilen mit Einkaufstüten zu den Geschäften, sie schieben Kinderwagen oder Rollatoren vor sich her. Handwerker und Geschäftsleute hasten aneinander vorbei. Alles Leute, an denen sich niemand stört. Nur eine Gruppe Menschen ist denjenigen, die einen Verfall der City nahen sehen, ein Dorn im Auge: die Bettler. Immer mehr, immer dreister, heißt es über sie. Aber wie fühlt sich das eigentlich an, auf der Straße zu sitzen und andere Menschen um etwas zu bitten? Wir wollten es selbst wissen.
Marktstraße in Oberhausen: Als Bettler in der Fußgängerzone
Aus meinem Kleiderschrank habe ich ein paar alte Sachen geholt. Eine Schirmmütze soll nicht meinen Kopf warm halten, sondern mir als Schutz dienen. Ich ahne, dass es unangenehm sein könnte, Menschen in die Augen zu sehen.
Mit meinem Pappschild „Brauche Geld für Essen Danke“ und einem Kaffeebecher positioniere ich mich gegenüber von einem Bäcker und vor einer Bank. Für Brötchen braucht man Kleingeld. Da könnte schneller was abfallen.
Selbstversuch als Bettler: Blickkontakt ist nur schwer zu ertragen
Das Pflaster ist sauberer als gedacht. Man sieht noch die Tabakkrümmel in den Fugen. Aber ich habe ja auch keine weiße Hose an. Ich setze mich an die Wand und baue mein Schild auf. Mir fallen meine sauberen Hände auf, und irgendwie bewege ich mich doch gar nicht wie jemand, der sich seit Jahren durchschlägt. Mir kommen Zweifel auf. Da kommt eine ältere Frau auf mich zu und hält mir ein Zwei-Euro-Stück hin. Ich murmele ein „Danke“ und lege es in den Becher. Okay, das ging schnell.
Nach wenigen Minuten kommt ein zweiter älterer Mann, gibt mir ein Ein-Euro-Stück. Die Schirmmütze zahlt sich jetzt aus. Ich traue mich gar nicht, ihn dabei anzusehen. Das „Danke“ fällt mir ebenso schwer. Er aber schaut auch nicht richtig hin. Ihm scheint die Sache unangenehm zu sein. Keine Fragen, kein „Bitte“, nur eine kurze großzügige Übergabe.
So geht es allerdings nicht mehr weiter. Die Menschen ziehen an mir vorüber. Ich halte den Blick nach unten, meist sehe ich aus der Nähe nur ihre Beine, ihre Schuhe. Komisch, die Menschen aus dieser Perspektive zu sehen. Wie ein Hund. Sogar Jugendliche kommen mir aus meiner Position selbstsicher und kräftig vor. Ich wage nur kurze Blicke unter meiner Schirmmütze. Wenn sich Blicke treffen, dann nur für einen Moment. Den anderen wäre es wohl lieber, ich wäre unsichtbar. Das wünsche ich mir gerade auch.
Einkaufsstraße in Oberhausen: Es wird ziemlich kühl
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Ich frage mich, was ich jetzt machen soll. Es wird ziemlich kühl auf dem harten Boden. Und ich hab nix dabei, mit dem ich mich beschäftigen könnte. Ich finde ein uraltes Feuerzeug in meiner Rucksackklappe. Könnte daran herumbasteln, so tun als ob. Nach kurzer Zeit ist es die einzige sinnvolle Beschäftigung für mich. Gibt es hier irgendwo eine Uhr? Ich hab kein Handy, könnte jemanden fragen. Und dann? Weiß ich, wie viel Uhr es ist. Toll.
Ich ziehe meine Felljacke dichter um mich. Eigentlich jämmerlich. Menschen, die betteln, sitzen viele Stunden auf der Straße, manchmal in kümmerlichen Haltungen, und mir wird es jetzt schon zu unbequem. Allmählich werde ich auch ärgerlich. Wenn jemand dicht an meinem Becher vorbeiläuft, frage ich mich, was der Mist soll. ICH BIN HIER. Eine Gruppe Männer stellt sich direkt neben mich, redet hektisch. Eine Zigarette brennt einen halben Meter neben mir auf Kopfhöhe. Der Rauch zieht beißend zu mir rüber. ICH BIN HIER.
Vorher hatte ich die größte Sorge, dass jemand meine „Story“ wissen will: Warum brauche ich überhaupt das Geld? Wo lebe ich? Hatte ich mal einen festen Job? Was ist dann passiert? Aber niemand will das wissen. Nur ein Kind mit Schultornister fällt mir auf, das seinen Blick nicht abwenden will oder kann. Es läuft und läuft, schaut mich aber weiter an. In seinem Blick meine ich kein Urteil zu sehen, sondern nur Interesse.
Selbstversuch als Bettler in Oberhausen: „Geh arbeiten!“
Ein leichter Regen setzt ein, ich fröstele noch mehr, ziehe meine Socken hoch. Ich muss an die Wohnungslosen denken, die ganze Tage draußen sitzen, wie kalt ihnen ein milder Herbst vorkommen muss, wie man das überhaupt aushält. Mein Hintern tut weh und für einen kurzen Moment ist der Gedanke da: Nächste Mal ein Pappschild mitnehmen.
Mit dem Regen setzt auch das Geklimper in meinem Becher ein. Ich kann nicht sagen, ob es mehr jüngere oder ältere Menschen sind. Aber vor den Jüngeren schäme ich mich mehr, dass ich etwas von ihnen annehme. Eine junge Frau auf einem E-Scooter hält vor mir, sagt „Hi, magst du ein Käsebrötchen und eine Cola?“ Das Brötchen ist vom Bäcker und ich bin ehrlich erstaunt. Das merke ich auch daran, dass ich dreimal „Danke“ sage. Ich beiße hinein und es schmeckt tatsächlich viel leckerer als sonst. Wahrscheinlich, weil‘s von Herzen kommt.
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Ein junger, cooler Mann mit modischem Haarschnitt wirft mehrere Münzen rein. Ich hätte es nicht von ihm vermutet. Ebenso hätte ich nicht gedacht, dass eine ungepflegte Frau mit ausgetretenen Crocs mir im Vorbeigehen entgegenschleudert: „Geh arbeiten!“. Warum ausgerechnet die, frage ich mich. Nach unten treten, wenn noch jemand drunter ist?
Als eine ältere Frau einen Fünf-Euro-Schein in den Becher legt, halte ich es fast nicht mehr aus. „Hol dir ma watt zu essen“, sagt sie, und geht hinkend weiter. Ich überlege, ihr hinterherzugehen und das Experiment aufzulösen. Ich bin gerührt, dass die Menschen so großzügig sind.
Fazit: Überraschend großzügige Menschen und tiefe Scham
Ich stehe auf, meine Beine tun mir weh, und jetzt bewege ich mich tatsächlich, als hätte auch ich etwas durchgemacht. Das Geld klimpert in meinem Becher. Ich hätte wohl genug für ein Mittagessen und ein Abendbrot. Auf einer öffentlichen Uhr sehe ich, dass gerade einmal zwei Stunden vergangenen sind.
Ich zähle das Geld. 13,55 Euro. Niemals wäre das genug, um eine Sucht zu bezahlen. Was wäre, wenn ich das Geld unbedingt bräuchte, um mir Drogen zu kaufen? Wenn mir der Schweiß kalt den Rücken herunterlaufen würde und ich an nichts anderes denken könnte als an den nächsten Schuss? Oder was wäre, wenn ich nicht ins Büro zurückgehen könnte, um dort auf Toilette zu gehen und einen warmen Kaffee zu trinken, sondern jeden Tag aufs Neue darauf hoffen müsste, dass mir Menschen helfen? Und ich jeden Tag schlucken müsste, dass ich weniger wert bin, weil ich keinen Job, keine Familie, kein Zuhause habe?
Ich nehme den Becher in die Hand und bin ziemlich nachdenklich. Das Geld werde ich einer Hilfsorganisation geben. Und ich werde in Zukunft bettelnde Menschen respektvoller behandeln. Freundlichkeit kostet nichts.