Kreis Wesel. „Hotel Mama“ der Adoptiveltern wird jetzt schließen, der verwaiste Adlerjunge von der Bislicher Insel ist selbstständig und erkundet seine Welt.
Allen Unkenrufen zum Trotz: Er fliegt und er jagt. Der junge Seeadler von der Bislicher Insel, verwaist und mühsam per Hand aufgepäppelt, ist auf der Insel Poel zu einem wilden Greifvogel herangewachsen. Aktuell muss sich der gar nicht mehr so Kleine wohl oder übel darauf vorbereiten, dass das „Hotel Mama“ demnächst schließt, die Adoptiveltern ihn und seine Halbschwester aus ihrem Revier jagen. Jeden Tag kann es jetzt soweit sein, sagt Peter Malzbender, Nabu-Vorsitzender im Kreis Wesel und Vorstand der Greifvogelstation, der den Jungvogel dorthin gebracht hat. Ziel der Aktion war es, dass echte Seeadler den Waisenjungen aufziehen und er ein freies Leben haben kann, von Menschen vollkommen unabhängig. Mit Unterstützung der Aktiven vom Seeadlerschutz Mecklenburg-Vorpommern wurde der junge Niederrheiner nach langer Suche einem Adlerpaar untergeschoben, das nur ein Jungtier in etwa der gleichen Größe hatte. Und es gelang: Die Alttiere stopften auch den zweiten Schnabel und die Halbgeschwister vertrugen sich gut. Inzwischen hat sich die Hoffnung auf ein Happy End erfüllt: Die Vögel stehen auf Poel unter ständiger Beobachtung und bei den Seeadlern ist tatsächlich einiges los.
Eigentlich war „Zwergo“, wie seine Pflegerin das anfangs drei Tage alte und 81 Gramm leichte, flaumige Junge nannte, nach zwei Monaten laut Expertenmeinung bereits zu alt, um noch ausgewildert zu werden und eine neue Familie zu finden. Das hätte für ihn ein Leben in Gefangenschaft bedeutet. „Alle Fachleute haben gesagt, dass das nicht gelingen kann und ich mich blamieren werde“, erzählt Malzbender. Es kam anders, ein Baumkletterer schaffte das in nur zwei Monaten riesig gewordene Jungtier in 20 Metern Höhe in einen Horst. Nach spannenden Stunden zeigte sich, dass die Altvögel es umstandslos adoptierten – die Alternative wäre allerdings tödlich gewesen, sie hätten es umgebracht und aus dem Nest geworfen.
Und heute? Am Stichtag 26. Juni hat der Jungvogel zum ersten Mal erprobt, ob seine Flügel ihn tatsächlich tragen. Seitdem gibt es für ihn und seine Halbschwester kein Halten mehr. „Sie fliegen zusammen, seltener auch noch im Familienverband, und erkunden die Gegend“, so Malzbender, der mit dem Seeadlerschutz Mecklenburg-Vorpommern in engem Kontakt steht. Immer häufiger sind die Jungen auch allein unterwegs, wagen sich zunehmend weiter weg. Die Eltern haben ihnen gezeigt, wie man jagt, schafften nach und nach weniger Futter heran. „Sie bleiben aber häufig in der Nähe, was durchaus ein Radius von 100 Metern sein kann“, so Malzbender. Und manchmal, ganz selten inzwischen, lassen die Alten auch mal ihre Beute liegen, ein Geschenk für den Nachwuchs. Füttern kommt nicht mehr in Frage und demnächst müssen die Jungen ihrer eigenen Wege fliegen. Das ist eine Notwendigkeit, die die Natur ihnen vorgibt. Und, irgendwie menschlich, eine, die mancher Jungvogel nicht besonders schätzt: Unter den elterlichen Fittichen lebt es sich eben recht bequem.
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Beobachter berichten laut Malzbender, dass die jungen Adler weit in die Region mit ihren Gewässern im Salzhaff fliegen und dabei durchaus Höhen bis zu 1000 Metern erreichen. „Das ist aufregend für sie, entdecken täglich neue Gebiete und neue Futterplätze. Mal eben 20 Kilometer zurück zum Horst ist für sie keine Strecke.“ Es sei die Zeit, in der die Jungvögel sich ausprobieren und sehr viel lernen, ihre Gehirne haben sich rasant entwickelt und sie nehmen alles um sich herum gierig auf, vielleicht vergleichbar mit menschlichen Teenagern.
Ob der junge Adler von der Bislicher Insel, an dessen Schicksal viele Naturfreunde Anteil nehmen, jemals an den Niederrhein zurückkehrt? „Das ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, urteilt Malzbender. Seeadler sind ungeheuer mobil, er erwarte, dass er irgendwo in Deutschland ein Weibchen findet und brütet. Oder in Norwegen, Holland, Dänemark...