Kreis Kleve. Die aus dem Ruder gelaufene Nationalpark-Debatte zeigt, dass unsere Diskussionskultur tiefe Schäden aufweist - unabhängig vom Bürgerentscheid.

So sehr man auch die missratene Auseinandersetzung mit dem Bürgerentscheid zum Nationalpark Reichswald bedauern kann, die Vorgänge, die sich im Internet und in der realen Welt abgespielt haben, sind Ausdruck tiefgreifender Schäden unserer Diskussionskultur. Die fortwährende Emotionalisierung in den Sozialen Netzwerken, die für viele Menschen mittlerweile die bestimmende Informationsquelle geworden sind, sind demokratiegefährdend.

Ein Wesenskern der Demokratie

Warum? Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas sieht einen neuen Strukturwandel in der Öffentlichkeit und in der Folge auch in der politischen Auseinandersetzung. Denn eine wesentliche Voraussetzung für unser demokratisches Miteinander ist eine „deliberative Politik“, die auch von breiten Bevölkerungsschichten wahrgenommen wird. Mit „deliberativer Politik“ ist der vernünftige Austausch von gegenteiligen Argumenten gemeint, der im Idealfall zu einer besseren Lösung führt oder zumindest zu einem Kompromiss, den eine breite Mehrheit akzeptieren kann. Für Habermas ist die „deliberative Politik“ eine „Existenzvoraussetzung jeder Demokratie, die diesen Namen verdient.“

Wer lesen möchte

Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp-Verlag, 108 Seiten. 

Denn Demokratie heißt nicht nur, dass wir regelmäßig zur Wahlurne schreiten, um auf Europa-, Bundes-, Landes- oder Kommunalebene ein Parlament zu wählen. Demokratie lebt wesentlich von der Kommunikation in einer politischen Öffentlichkeit. Bislang gewährleisteten Tageszeitungen, Fernsehen und Radiostationen das Podium für eine qualitative Auseinandersetzung. Journalisten lieferten den aufklärenden Input: Beiträge, alternative Vorschläge, Informationen, Stellungnahmen, Pro und Contra. Dadurch erhält jeder Bürger die Gelegenheit, sich seine eigene Meinung zu bilden.

Es fehlt Relevanz

Durch die relative Abnahme der Bedeutung von Tageszeitung, Fernsehen und Radio ist diese Funktion gefährdet. Die Qualität der Beiträge in sozialen Internetforen nimmt ab, die Kontrolle über den Wahrheitsgehalt des Gesagten ist nicht gegeben, selbst der Wille zur Wahrheit muss in Zweifel gezogen werden. Vielmehr werden die Kanäle mit allerlei Meinungen gespült, die nur die verfestigten Sichtweisen bestätigen. Zudem: Die politische Öffentlichkeit ist in der Internetwelt stark fragmentiert – wir kommen online nicht mehr zusammen und verharren in unseren Foren.

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Eine „deliberative Politik“ im Sinne Habermas’ ist kaum zu entdecken. Die Beiträge der klassischen Massenmedien, die sich an die Vorgaben des Pressegesetzes halten, verlieren im Meer der Äußerungen an Relevanz. Sie werden umspült von Halb- und Unwahrheiten interessengeleiteter Gruppen, die eigentlich dringend einer kritischen Prüfung bedürften. Die Nationalpark-Debatte lieferte unzählige Beispiele. Selbst die Kreisverwaltung Kleve hat es nicht geschafft, die Bürger bei der Versendung der Wahlunterlagen mit Fakten zu den wichtigsten, strittigen Punkten aufzuklären, sondern lediglich mit den Meinungen der Parteien zu beliefern. Das ist keine gute Grundlage für eine Entscheidungsfindung.

Die Bedeutung der Medien

Das Mediensystem hat für die Herausbildung einer öffentlichen Meinung eine entscheidende Bedeutung. Hier kommt jetzt auch den Administratoren von zum Beispiel Facebook-Foren eine wesentliche Rolle zu. Ob sich diese Personen ihrer publizistischen Verantwortung bewusst sind, darf bezweifelt werden. In der Reichswald-Debatte mehrten sich die Hinweise, dass nicht genehme Beiträge einfach gelöscht wurden.

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In Deutschland fehlt eine Kontrolle der neuen Medien. Sie haben kein Interesse an einer funktionierenden Demokratie, sie haben Interesse daran, dass sich Nutzer möglichst lange auf ihrer Seite aufhalten und das geht am besten, wenn man sie mit emotionalen Inhalten lockt. Entsprechend werden Texte, die politische Hintergründe liefern oder abgewogene Meinungen, schlechter vom Algorithmus bewertet und weniger verbreitet. „Plattformen liefern keinen Ersatz für eine professionelle und diskursive Prüfung von Inhalten anhand allgemein anerkannter kognitiver Maßstäbe“, so Habermas.

Die Digitalisierung der Öffentlichkeit hat eine Revolution ausgelöst. Habermas fasst dies schön in Worte: „Wie der Buchdruck alle zu potenziellen Lesern gemacht hat, so macht die Digitalisierung heute alle zu potenziellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“ Auch die Autorenrolle muss gelernt werden.