Essen-Kettwig. Bei der Eingemeindung vor 50 Jahren nach Essen war für Kettwig das Ende als Tuchmacher-Stadt längst besiegelt. Wie das Fabrikareal heute genutzt wird.

Als die Kettwiger am Neujahrsmorgen 1975 wach wurden, fanden sie sich in einem anderen Heimatort wieder. Denn das alte „Kettwig an der Ruhr“ war zu einem Stadtteil von Essen geworden, ein bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern unbeliebter Anschluss. Außerdem war Kettwig mit Jahresbeginn keine Tuchmacher- und Spinnerei-Stadt mehr. Denn das prägende Großunternehmen Johann Wilhelm Scheidt AG hatte im Herbst 1974 seine Pforten geschlossen. Damit waren die letzten 560 Arbeitsplätze in der Kammgarnspinnerei weg.

Die Eingemeindung nach Essen vor 50 Jahren ist bei vielen Einwohnern bis heute nicht vergessen, die Schließung von Scheidt eher in den Hintergrund getreten. Doch Gabriele Scheidt beschäftigt die Firmengeschichte bis heute. Die 65-Jährige ist zusammen mit ihrem Bruder Carel Geschäftsführerin der Grundstücksgesellschaft Kettwig (GGK), der Nachfolgegesellschaft der Johann Wilhelm Scheidt AG und somit die Bewahrerin des Namens Scheidt in dem Ruhr-Stadtteil.

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Harter Schnitt: Das Geschäft mit Kammgarn lief nicht mehr

„Für meinen Vater Friedrich Arnhard bedeutete damals die Schließung des letzten Betriebsteils einen harten Schnitt. Aber das Geschäft mit Kammgarn lief nicht mehr. Meine Geschwister und ich haben ihn mehrmals sagen gehört, ,bevor wir in rote Zahlen geraten, machen wir den Betrieb selbst geordnet zu‘“, berichtet Gabriele Scheidt. Dazu kam es dann kurz vor dem Jahreswechsel 1974/’75.

Wohnen statt Arbeiten: Schon seit einigen Jahren stehen Neubauten auf dem Gelände der Kettwiger Grundstücksgesellschaft.
Wohnen statt Arbeiten: Schon seit einigen Jahren stehen Neubauten auf dem Gelände der Kettwiger Grundstücksgesellschaft. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Service | Hans Blossey

Mit noch 560 Beschäftigten, meist Frauen, war Scheidt nach Angaben des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs in Köln damals der größte Arbeitgeber in Kettwig. Auch im Archiv sagt man, dass Firmenchef Friedrich Arnhard Scheidt mit vielen Mitteln eine eigenständige Schließung ohne Insolvenz durchgeführt hat. Für die Beschäftigten wurde ein Sozialplan aufgestellt – „auch durch Verkauf von Immobilien“, so Tochter Gabriele Scheidt – und durch Vermittlung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an andere Firmen. Die Leiterin der Kettwiger Grundstücksgesellschaft ist sich sicher: „Durch die Schließung unseres Werks hat Kettwig, kurz vor der Eingemeindung, seine wirtschaftliche Bedeutung verloren.“

Gabriele Scheidt

„Durch die Schließung unseres Werks hat Kettwig, kurz vor der Eingemeindung, seine wirtschaftliche Bedeutung verloren.“

Gabriele Scheidt,
Geschäftsführerin der Grundstücksgesellschaft Kettwig (GGK)

Es lief nicht gut in dieser Zeit. Deutschland steckte in einer Konjunkturflaute, im Herbst 1973 hatte die Öl-Krise begonnen. In Kettwig beendete 1972 auch das Ziegelwerk Asey die Produktion, 1966 war bereits die Zeche Rudolph in Oefte dichtgemacht worden. Neue Arbeitsplätze brachte dann das neue Gewerbegebiet Im Teelbruch, u.a. mit der Großdruckerei des Axel-Springer-Verlages. Doch der Abschied von Scheidt blieb damals lange ein Gesprächsthema.

Der alte Arbeiter-Eingang an der Rückseite, genannt „Kino-Eingang“, existiert noch nahezu unverändert.
Der alte Arbeiter-Eingang an der Rückseite, genannt „Kino-Eingang“, existiert noch nahezu unverändert. © A. Maßmann

Gefertigt wurden in Kettwig Qualitätstuche für die Herren-Konfektion

Heute kaum noch bekannt, hatte das Unternehmen fast 300 Jahre seinen Platz in Kettwig. In der Firmengeschichte heißt es: „Godefridus Scheidt betrieb von 1659 bis 1700 eine Tuchmacherei in Kettwig. Eine erste Firmengründung kann nach neuerer Forschung für das Jahr 1681 gelten.“ Da gründete der Sohn Albert Wilhelm Scheidt am Ort eine Tuchfabrik. Sie ging 1821 auf Johann Wilhelm Scheidt über.

Die Arbeitshalle unter dem früheren Wollboden. Einige Male wurde das Ambiente für die „Kunstspur“ genutzt.
Die Arbeitshalle unter dem früheren Wollboden. Einige Male wurde das Ambiente für die „Kunstspur“ genutzt. © A. Maßmann

Die Fabrik wuchs und wuchs, um 1870 sollen 2300 Beschäftigte auf den Lohnlisten des Unternehmens gestanden haben. Rund 90 Jahre später waren es dann auch viele griechische Arbeitskräfte. Gefertigt wurden vor allem Qualitätstuche für die Herren-Konfektion.

Optisch ist Scheidt noch sehr präsent. Ein Teil der Fabrikhallen an der Ringstraße wurde zwar für eine moderne Wohnbebauung abgebrochen, ein anderer Teil zieht sich weiterhin an der Ringstraße entlang. Und in diesen Hallen herrscht Leben, wenn auch mit ruhigem Pulsschlag. Etwa 2000 Quadratmeter Hallenfläche und ein Stück Freifläche sind vermietet. Unter dem Dach gibt es mehrere Dutzend Lagerboxen, wo jedermann seine Habseligkeiten einlagern kann. Im Erdgeschoss nahe der großen rückwärtigen Einfahrt werden Stellplätze für Fahrzeuge vermietet.

Planung für das alte Kesselhaus in Corona-Zeit nicht aufgegangen

Übrig gebliebenes Werkzeug: Die Kettwiger Grundstücksgesellschaft wollte das frühere Kesselhaus einer neuen Nutzung zuführen. Doch Corona durchkreuzte die Pläne.
Übrig gebliebenes Werkzeug: Die Kettwiger Grundstücksgesellschaft wollte das frühere Kesselhaus einer neuen Nutzung zuführen. Doch Corona durchkreuzte die Pläne. © Kira Alex | Kira Alex

Ebenso ist die alte Direktion, sehr stilvoll renoviert, vermietet, an Gewerbetreibende, wie das frühere Mädchenheim, ein gepflegter fast klassizistischer Bau, etwas rückverlagert von der Ringstraße. Gabriele Scheidt: „Wer etwas mieten möchte, ist gern willkommen.“

Eine Million Kilogramm Garne jährlich

Die Kammgarnspinnerei der Firma Scheidt wurde 1882/83 angelegt und machte die bisherige Tuchherstellung zum mittlerweile üblichen Vollbetrieb einer Spinnweberei. Die Gründung erfolgte, um sich von den Zulieferungen des benötigten Garnes als Vormaterial unabhängig zu machen.

Ab 1887 bereits nahm man die Produktion „vollfarbiger Garne“ auf, d.h. der Spinnerei wurde am Standort ein eigener Färbereibetrieb angegliedert. Verarbeitet wurden australische, südamerikanische, südafrikanische und deutsche, hauptsächlich feine Merino-Wollen.

Die Belegschaftszahlen des Gesamtbetriebes betrugen 1926 allein 1500 Arbeiter, die auf insgesamt 83.000 Quadratmetern überbauter Fläche produzierten. Es wurden eine Million Kilogramm Garne jährlich erzeugt und 24.000 Stück Tuch ausgeliefert.

Auch das frühere Turbinenhaus am Mühlengraben wird immer noch mit „Scheidt“ in Verbindung gebracht, ist aber schon vor langer Zeit verkauft worden. Für die Scheidt’sche Grundstücksgesellschaft dürfte sich absehbar die Frage stellen, was aus den großen Hallen werden soll. Eine Planung mit kleinen Firmen im alten Kesselhaus vor einigen Jahren ist in Corona-Zeiten nicht aufgegangen.

Da dürfte der Rückblick auf 50 Jahre Eingemeindung nach Essen eher gemischte Gefühle hervorrufen. Vor allem ältere Menschen äußern noch oft den Satz „Kettwig ist nicht Essen“. Bei jüngeren Bürgerinnen und Bürger dürfte dies nicht so stark gelten, und Zugezogene können mit dem alten selbstständigen Kettwig wohl wenig anfangen. In einem Gespräch am Jahresanfang mit dieser Redaktion erinnerten sich aber einige Teilnehmer noch an die Protestveranstaltungen gegen die Gebietsreform bis hin zum Bürgerbegehren 1996. Es brachte nichts ein. Aber viele Einwohner sprechen oft von dem Heimatgefühl, das geblieben sei.

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