Essen. Sie helfen Zwangsprostituierten, wenn die ihre Peiniger vor Gericht bringen. Das sei nicht ganz ungefährlich, sagt das Essener Nachtfalter-Team.
Sie beraten Frauen, die Opfer von geschickter Manipulation, roher Gewalt und Menschenhandel geworden sind, stehen ihnen bei, wenn sie ihre Peiniger anzeigen und vor Gericht bringen: Die Beraterinnen von „Nachtfalter“ in Essen sind für viele Betroffene eine wichtige Stütze – und bleiben selbst lieber anonym. „Im gesamten Land gibt es Übergriffe auf Beratungsstellen, von Tätern oder aus dem Täter-Umfeld“, sagt Maike van Ackern, die bei der Caritas-SkF-Essen (CSE) die Abteilung „Mädchen und Frauen in besonderen Lebenslagen“ leitet, zu der auch der „Nachtfalter“ gehört. Die Beratungsstelle feiert nun ihr 35-jähriges Bestehen und stellt ihre Arbeit diese Woche mit einer Ausstellung vor.
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Im Vorfeld haben uns Maike van Ackern und zwei Beraterinnen von dem Angebot erzählt, das Mädchen und Frauen helfen soll, die „Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“ geworden sind. Anders als in den Anfängen wende sich „Nachtfalter“ heute nicht mehr an Frauen, die der Sexarbeit freiwillig nachgehen: Sie werden seit 2019 gleich nebenan bei „Freiraum“ beraten.
Erst Liebhaber, dann Zuhälter: So manipulieren Loverboys die Frauen
Zwangsprostituierte, die vielfach angelockt mit falschen Versprechungen aus dem Ausland herkommen, sind bei „Nachtfalter“ richtig. Mal machen ihre Peiniger sie mit Schlägen gefügig, vergewaltigen und verschleppen sie, mal tritt der Täter zunächst als Liebhaber auf, umwirbt und manipuliert die Frauen: Aufwendig sei die unter dem Stichwort „Loverboy“ bekannte Herangehensweise und perfide.
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„Manchmal glauben sogar die Eltern, sie hätten den perfekten Schwiegersohn vor sich.“ Die Frauen selbst seien verliebt und bereit, einiges für den Partner zu tun, wenn der angeblich in eine Notlage gerät, ergänzt Maike van Ackern: „Da heißt es, er habe hohe Schulden, werde von seinem Gläubiger bedroht: ,Aber wenn Du einmal mit dem schläfst, erlässt der mir etwas.‘“ Oft der Beginn einer verhängnisvollen Spirale, an deren Ende das Opfer von allen sozialen Kontakten abgeschnitten, dem Mann und der Prostitution ausgeliefert ist. Einen „Loverboy“ strafrechtlich zu belangen, sei schwierig: Oft genug argumentierten die Anwälte erfolgreich, dass die Frau sich doch freiwillig prostituiert habe – aus Liebe. Auch wenn die Liebe da längst der Angst gewichen ist.
Ausstellung zum Thema Menschenhandel
Die Beratungsstelle „Nachtfalter“ berät Mädchen und Frauen, „die von Menschenhandel zum Zweck der Prostitution betroffen sind“. Das Angebot umfasst u.a. Erstversorgung in einer Krisensituation, Vermittlung in medizinische und therapeutische Behandlungen, Begleitung zu Ämtern und sichere Unterbringung. Im Jahr 2023 nahmen 65 Frauen die Beratung wahr: Teils wurden sie schon seit Jahren begleitet, teils hatten sie nur wenige Termine. Die Beratung ist vertraulich, anonym und kostenlos. „Nachtfalter“ ist erreichbar unter: 0201-63 25 69 920 oder per Mail an: nachtfalter@cse.ruhr.de
Das NRW-Familienministerium trägt 85 Prozent der Kosten der Beratungsstelle. Es bleibe eine Finanzierungslücke von 15 Prozent, die der Nachtfalter-Träger Caritas-SkF-Essen (CSE) erbringen müsse, erklärt Maike van Ackern, Leiterin der Abteilung „Mädchen und Frauen in besonderen Lebenslagen“ bei der CSE. Spenden sind möglich auf das Konto bei der Bank im Bistum, IBAN: DE58 3606 0295 0096 8000 45, Stichwort „Nachtfalter“.
Zum 35-jährigen Bestehen von Nachtfalter zeigt die Einrichtung in ihren Räumen die Wanderausstellung „Menschenhandel - Situation, Rechte und Unterstützung in Deutschland“. Diese klärt über das Thema auf und gibt Einblicke in die Arbeit des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel e.V. (KOK). Interessierte können die Ausstellung am Mittwoch, 23. Oktober, von 15 bis 17 Uhr, und am Freitag, 25. Oktober, von 9 bis 12 Uhr in der Niederstraße 12 im Nordviertel besichtigen.
Doch auch in vermeintlich eindeutigen Fällen, in denen die Frauen schlimme Qualen erdulden mussten, sei eine Verurteilung nicht leicht. „Menschenhandel kann man nur beweisen, wenn man stabile Opferzeugen hat“, sagt eine der Beraterinnen. Doch Ermittlungen und Verfahren könnten sich jahrelang hinziehen. Immerhin sei heute in der Regel der Aufenthaltsstatus für die Dauer des Prozesses gesichert, „wenn die Frauen gegen die Täter aussagen“, sagt eine Beraterin. Wenn das Urteil gesprochen sei, sei es schwieriger, die Abschiebung der Frauen zu verhindern.
Sie werden vergewaltigt, ihre Grenzen niedergerissen – es geht bis zu Folter
Auch so knicken viele schon vorher ein, teils weil sie drogensüchtig oder anderweitig stark belastet sind, teils aus blanker Angst, weil die Täter sie und ihre Familien bedrohen. Das Nachtfalter-Team nimmt die Bedrohungen ernst: „Die Frauen sind sehr gefährdet, die Täter kommen auch in Beratungsstellen, versuchen, die Namen der Ratsuchenden herauszufinden, bedrohen auch Beraterinnen.“ Die Frauen werden mental auf einen Prozess vorbereitet, rechtlich beraten. Oft müssen Sprachmittler dazugeholt werden, da nur etwa ein Drittel der Betroffenen Deutsche sind: Ein weiteres Drittel kommt aus einem EU-Land, ein weiteres Drittel aus anderen Staaten.
„Im gesamten Land gibt es Übergriffe auf Beratungsstellen, von Tätern oder aus dem Täter-Umfeld.“
Gerade die Frauen, die von weit her verschleppt worden sind und kein Deutsch sprechen, sind ihren Peinigern besonders schutzlos ausgeliefert: „Sie werden vergewaltigt, ihre Grenzen niedergerissen. Es geht teils bis zur Folter.“ Vielen wird gesagt, es seien hohe Kosten für ihre Flucht aus dem Heimatland entstanden, die sie nun abarbeiten müssten.
Verschleppt: Zwangsprostituierte können oft nicht sagen, wo der Tatort war
Klare Fälle von Menschenhandel und Zwangsprostitution seien das. Doch den Betroffenen werde meist der Pass abgenommen und sie tauchten auch nicht auf der Straße, in einschlägig bekannten Etablissements oder anderswo im „sichtbaren Bereich“ auf: „Die arbeiten häufig in illegalen Wohnungsbordellen. Teils stehen die irgendwann bei uns und können nicht mal sagen, wo der Tatort war.“ Auch das erschwere die ohnehin komplizierten Ermittlungen. „Leider hat die Polizei dafür offenbar zu wenig spezialisierte Leute. Wir wünschten uns, die wären personell besser aufgestellt“, sagt Maike van Ackern.
Bei „Nachtfalter“ müssen die Frauen nur sagen: „Ich bin betroffen und bedroht.“ Dann ist es auch möglich, sie im Rahmen einer „Schutzunterbringung“ an einen sicheren Ort zu bringen: in einer Wohnung, einer Einrichtung oder einem Hotelzimmer („Natürlich nicht im Hilton“). Zunächst drei Monate haben sie Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich zu stabilisieren, über eine mögliche Anzeige und ihre Zukunft nachzudenken.
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