Essen. Als „Baroness Babalon“ arbeitet die 42-Jährige freiwillig als Prostituierte in Essen. Was ihr voluminöser Körper und ihr Sohn damit zu tun haben.

„Ich habe meine Berufung gefunden, zumindest aktuell. Was in einigen Jahren sein wird, weiß ich nicht.“ Das sagt die Frau, die unter dem Arbeitsnamen Baroness Babalon als Sexarbeiterin tätig ist. Die 42-Jährige ist eine Domina, erfüllt Männern in Essen und Umgebung gegen Bezahlung Schmerz- und Demütigungsfantasien.

Wer sie bucht, bevorzugt vermutlich schwere Frauen. „Baroness Babalon“ bezeichnet sich selbst als „dickste Domina Deutschlands“, bringt derzeit 175 Kilo auf die Waage. Wer zu ihr kommt, wünscht sich meist, das Gewicht ihres Körpers auf sich zu spüren, ihre Kurven anzufassen, vielleicht auch in Kombination mit Doktorspielen, Schlägen oder anderen Varianten aus dem Sado-Maso- oder Fetisch-Bereich. Einen Koffer mit Arbeitsutensilien wie Peitsche und Co. hat sie dabei, wenn sie Kunden besucht, braucht die Ausrüstung aber selten. „Den meisten reicht meine Figur“, sie werde schließlich wegen ihres ausladenden Pos gebucht.

Wir treffen die selbstbewusste Mittvierzigerin in der Redaktion in Essens Grüner Mitte, unweit der Universität. Dort kennt sich die Sexarbeiterin aus. Sie hat nach dem Abitur vor gut 20 Jahren Germanistik und Geschichte studiert, das Studium später für eine Ausbildung zur Versicherungskauffrau abgebrochen. Gern erinnert sie sich an Chili-Burger im Café Nord und Heavy-Metal-Konzerte im Turock während ihrer Studentenzeit.

Einstieg in die Sexarbeit kam spät: Nach dem Abitur hat die gebürtige Marlerin ein Studium in Essen begonnen

Statt in die Sexarbeit hätte ihr Weg auch in den Journalismus führen können. Nach einem Schülerpraktikum in der Redaktion Marl, ihrer Geburtsstadt, verdiente sie sich dort ein Taschengeld als freie Mitarbeiterin. „Das hat mir damals gut gefallen, ich war sprachlich fit und neugierig, aber auch Archäologie und Kunstgeschichte hätte ich gern studiert“, sagt sie.

Mit 16 zog sie von zu Hause in eine Wohngruppe, „weil es daheim einfach nicht mehr gepasst hat“. Sie habe keine schlimme Kindheit, sondern einfach einen großen Freiheitsdrang gehabt. Aufgewachsen in einem offenen, liberalen Elternhaus, war Respekt anderen Menschen gegenüber immer wichtig. „Wenn jemand ,du Hure‘ als Schimpfwort verwendet hat, haben die Eltern gleich erklärt, dass das unangemessen ist, weil die Frauen in diesem Beruf eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit leisten.“ Eine Sichtweise, die die Tochter bis heute teilt.

Die Sexarbeiterin „Baroness Babalon“ beim Besuch in der Redaktion in Essen.
Die Sexarbeiterin „Baroness Babalon“ beim Besuch in der Redaktion in Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ihre Eltern wissen, in welcher Branche sie tätig ist, der Kontakt ist weiter gut. „Ich habe jahrelang angekündigt, dass ich irgendwann als Domina arbeiten will. Meine Familie hat mir natürlich eher abgeraten. Ich habe dann immer wieder einen Rückzieher gemacht. Als ich mich aber tatsächlich entschlossen habe, das zu verwirklichen, war meine Familie dann nicht komplett überrascht.“

Sexarbeit in Essen

Aktuell haben laut Stadt 651 Prostituierte eine gültige Anmeldebescheinigung nach dem Prostituiertenschutzgesetz, die durch die Stadt Essen ausgestellt wird. Die überwiegende Anzahl der Sexarbeiterinnen stammt aus dem osteuropäischen Ausland (Rumänien, Bulgarien, Ungarn), gefolgt von Sexarbeiterinnen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Die Dunkelziffer der in der Prostitution tätigen Menschen lässt sich laut Stadtpresseamt nicht seriös schätzen. 

Die Entwicklung der Zahlen: Juni 2019: 617 angemeldete Prostituierte; November 2020: 425 angemeldete Prostituierte; November 2021: 484 angemeldete Prostituierte; April 2023: 665 angemeldete Prostituierte; Juni 2024: 651 angemeldete Prostituierte.

In Essen gibt es laut Stadt derzeit 18 genehmigte Prostitutionsstätten, davon zehn Betriebe an der Stahlstraße. Auf dem Straßenstrich an der Gladbecker Straße befinden sich zudem zehn Prostitutionsfahrzeuge, die die Sexarbeiterinnen anmieten können. „Die Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen können Ihre Tätigkeit im gesamten Bundesgebiet aufnehmen, sodass keine konkreten Aussagen zu den einzelnen Tätigkeitsorten gemacht werden können“, heißt es seitens der Stadt. 

In der Vergangenheit hatte sie verschiedene Jobs, auch einige in der Erotikbranche. Sie entlud Lkw im Postzentrum, ließ sich mit 20 Jahren eine 0190er-Nummer schalten und bot Telefonsex an, arbeitete zeitweise als Erotikmodell. Mit einer Mischung aus „Erschrecken und Faszination“ schaute sie damals im Fernsehen die Sendung „Wa(h)re Liebe“, in der Sexualität in all ihren Ausprägungen thematisiert wurde. „Bei meinen ersten Schritten in der Sexbranche schwang aber schon die Angst mit, ins ,Milieu‘ abzurutschen, auf die ,schiefe Bahn‘ zu geraten.“

In ihren Beruf in der Versicherungsbranche möchte die Domina nicht zurückkehren

Seit 2020 arbeitet „Baroness Babalon“, die ihren bürgerlichen Namen nicht im Artikel lesen möchte, inzwischen als Domina. In ihren alten Job will sie nicht zurückkehren. „Ich hatte zeitweise eine eigene Versicherungsagentur mit sechs Angestellten und Auszubildenden.“ Die Jagd nach Provisionen, ein Chef, der immer neue Verträge fordert, das ist für die 42-Jährige ebenfalls eine Art von Zuhälterei. Das stundenlange Sitzen am Schreibtisch habe ihr nicht gutgetan: „Jetzt arbeite ich selbstbestimmt. Und es geht mir gesundheitlich besser, weil ich mich mehr bewege“, sagt sie mit einem Augenzwinkern und meint damit, dass sie auf den Kunden „herumtrampelt“.

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Die Sexarbeiterin ist Mutter eines vierjährigen Sohnes. Ihren Job mache sie nicht trotz, sondern eher wegen ihres Kindes. „Als Mutter muss ich mir überlegen, was ich ihm vermitteln möchte. Mir ist wichtig, dass ich ihm vorlebe, dass er alles im Leben ausprobieren kann, um sich selbst zu verwirklichen. Er soll auf sein Herz hören.“ Ihr Job ermöglicht ihr zeitliche Flexibilität und finanzielle Freiheit. Allerdings ist sie durch ihren Sohn derzeit relativ ortsgebunden. Notfalls springt aber ihre Mutter bei der Betreuung des Kindes ein. „Jetzt kann ich in einer Woche das verdienen, was ich vorher vielleicht im Monat hatte. Dann kann ich mich drei Wochen intensiv um meinen Sohn kümmern.“

Die Prostituierte besucht die Männer meist in Hotels

Als „Baroness Babalon“ hat sie kein festes Studio, sondern besucht die Kunden, die sie respektvoll Gäste nennt, zu Hause oder im Hotel. Ihr voluminöser Körper ist ihr Kapital. „Natürlich gab es auch Zeiten, in denen ich darunter gelitten habe.“ Durch die Hormonumstellung in der Pubertät habe sie am Po, aber auch an Armen und Beinen, stark zugenommen. Inzwischen wurde bei ihr die Krankheit Lipödem diagnostiziert, eine krankhafte Störung der Fettverteilung, bei der es zu einer unkontrollierten Fettvermehrung kommt, was für die Betroffenen teils mit starken Schmerzen verbunden ist.

Mit ihren Outfits betont die Sexarbeiterin ihre körperlichen Besonderheiten.  
Mit ihren Outfits betont die Sexarbeiterin ihre körperlichen Besonderheiten.   © Merle Trautwein

„Da hilft keine Pille, sondern nur eine Operation“, sagt die 42-Jährige, die nach der Geburt ihres Sohnes 50 Kilo abgenommen, aber inzwischen auch schon wieder einiges zugenommen hat. Sie achtet sehr auf ihre Ernährung, hat jahrelang Kampfsport betrieben. „Im Moment geht es mir ganz gut. Ich versuche, so lange wie möglich fit und gesund zu bleiben“, sagt sie und man merkt ihr an, dass sie mit ihrem Körper Frieden geschlossen hat.

Mit der offensiven Präsentation ihrer Kurven will sie ein Zeichen setzen für Toleranz und Diversität, gegen Bodyshaming und Diskriminierung. Sie weiß, wovon sie spricht, hat erfahren, wie verletzend Menschen sein können. Unterwegs mit ihrem Sohn, musste sie sich aufgrund ihres Körpers und der Hautfarbe ihres Sohnes im Supermarkt schon mal anhören: „Ist klar, an so eine Fette geht kein Deutscher ran.“ Sie habe nichts dazu gesagt, aber gedacht: „Wenn du wüsstest, dass Männer viel Geld bezahlen, um mit mir Sex zu haben . . .“

Gegen Bodyshaming: Die 42-Jährige kennt Diskriminierung aus eigener Erfahrung

„Zum Glück mögen viele Männer ja dicke Frauen.“ Privat einen Partner zu finden, sei eigentlich nie ein Problem gewesen. „Ich habe schon immer die Erfahrung gemacht, dass auch Männer, die selbst sehr auf ihren Körper achten, vielleicht ins Fitnessstudio gehen, ihre ,weiche Seite‘ mit Frauen wie mir ausleben möchten.“ Da decke sich ihre private Erfahrung durchaus mit der beruflichen.

Ihre Gäste kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, es sind durchaus attraktive, gebildete Männer dabei, mit denen sie gern Gespräche führt und die sie theoretisch auch privat daten würde. Das bewegt sie dazu, inzwischen auch „normalen Service“, heißt Geschlechtsverkehr, anzubieten. „Ich bin gerade in einer Übergangsphase. Eigentlich bin ich Domina geworden, um unberührbar zu sein. Ich trage bei der Arbeit Handschuhe, wenn ich die Gäste anfasse. Inzwischen lasse ich manchmal Berührungen, teils sogar Geschlechtsverkehr, zu, bei dem ich durchaus Lust empfinde. Das ist eigentlich der einfachere Job, weil man sich mental darauf nicht so vorbereiten muss, wie auf die Dienstleistungen, für die man als Domina gebucht wird“, sagt die Sexarbeiterin, die seit kurzem auch gelegentlich in klassischen Bordellen anzutreffen ist.

Outfits mit Lack, Leder und Spitze spielen eine untergeordnete Rolle in ihrem Job, berichtet die Sexarbeiterin. Die meisten Kunden buchten sie wegen ihres schwergewichtigen Körpers.    
Outfits mit Lack, Leder und Spitze spielen eine untergeordnete Rolle in ihrem Job, berichtet die Sexarbeiterin. Die meisten Kunden buchten sie wegen ihres schwergewichtigen Körpers.     © Merle Trautwein

Sie beschäftigt sich intensiv mit den psychologischen Hintergründen, aus denen bestimmte sexuelle Vorlieben entstehen können, mit Aspekten wie Wertschätzung und Verantwortung, mit Fallenlassen und Auffangen. Die Single-Frau hat privat durchaus konservative Wertvorstellungen. „Für mich ist Treue in einer Beziehung wichtig. Eine feste Beziehung passt derzeit nicht zu meinem Leben, aber wenn ich etwas suchen würde, dann eine Partnerschaft, in der ich als Frau die Richtung vorgebe.“ Was wiederum ihrer beruflichen Rolle entspricht.

„Baroness Babalon“

Über ihre Erfahrungen als „dickste Domina Deutschlands“ will „Baroness Babalon“ (@baroness_babalon) ein Buch schreiben. Derzeit engagiert sie sich als Vorstandsmitglied im Bundesverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen. Die Vereinigung mit rund 1000 Mitgliedern finanziere Foren und Workshops durch Spenden und Beiträge und unterstütze Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in Deutschland. Sie ist auch für die in Bochum ansässige Prostituierten-Beratungsstelle Madonna aktiv.

Auch für „normalen Service“ nimmt sie einen Stundensatz, der weit über dem liegt, was zum Beispiel für sexuelle Dienstleistungen auf dem Straßenstrich üblich ist. Bei ihr zahlen Gäste für eine Stunde einen mittleren, dreistelligen Betrag. „Die Männer gönnen sich ja etwas Besonderes, da muss man dann im Zweifel auch schon mal darauf sparen, wie man es für ein Wellnesswochenende oder teure Sneaker ja auch tun würde“, erklärt die Domina selbstbewusst. Sie erlebt die Gäste in der Regel als respektvoll und eher zurückhaltend, behält sich aber vor, auch mal abzulehnen. Da verlässt sie sich auf ihr Bauchgefühl.

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Angst spürt sie bei Treffen in Privatwohnungen nicht. „Natürlich bin ich wachsam, aber auch als Versicherungsvertreterin weiß man ja nicht, was der Kunde wirklich vorhat, der einem im Keller den Wasserschaden oder die zu versichernde kostbare Weinsammlung zeigen will.“

Die Domina hält das viel diskutierte Sexkaufverbot für den falschen Weg

Ein immer wieder auf politischer Ebene gefordertes Sexkaufverbot nach skandinavischem Vorbild lehnt die Domina ab. „Damit sollen zwar nicht die Sexarbeiterinnen kriminalisiert werden, aber die Freier. Im Zweifel bleiben die Kunden weg, den Prostituierten, denen es oft sowieso nicht gerade gut geht, wird die Lebensgrundlage, ihre Existenz entzogen.“ Das gelte besonders für Frauen, die wenig berufliche Alternativen hätten.

Ihr ist es wichtig, zwischen selbstbestimmter Sexarbeit wie in ihrem Fall und Menschenhandel und Zwangsprostitution, oft mit emotionaler Erpressung gekoppelt, zu unterscheiden. Auch diese gibt es natürlich, weiß sie. Sie will als „Baroness Babalon“ den Kolleginnen und Kollegen, die keine gesellschaftliche Lobby haben, Gesicht und Stimme geben. Ihren Arbeitsnamen hat sie gewählt, weil die Figur, die in unterschiedlichen Mythen auftaucht, das Weibliche, Lebensgebende mit dem Aspekt der Dominanz über die männliche Lust vereint.

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