Duisburg. In einem Duisburger Seniorenzentrum demonstriert eine Karnevalsband eindrucksvoll, wie die Kraft der Musik selbst Alter und Demenz besiegen kann.

Kaffee, Kuchen, es riecht wie bei Oma. Es klingt auch wie bei Oma. Bella, bella, bella, bella Marie, vergiss‘ mich nie. Das Lied von den Caprifischern, die sich so nach ihren Liebsten sehnen, hat aus den Mündern vieler Künstler gleich mehrere Generationen geprägt, als das kollektive Liedgut noch kleiner war, weil Spotify und Co. die Musikwelt noch nicht internationalisiert hatten. An diesem Tag kommen die Caprifischer aus den Mündern Duisburger Senioren, Bewohner des Awo-Seniorenzentrums an der Karl-Jarres-Straße. Ein Wandtattoo neben dem großen Speisesaal, der heute ein Konzertsaal ist, passt hervorragend: „Erinnerungen sind Zeitreisen, die uns zurück zu unseren schönsten Augenblicken führen.“

Denn es geht ums Erinnern, an diesem stickigen Donnerstagnachmittag. Und die Bewohner erinnern sich, davon zeugt die beeindruckende Textsicherheit, sie erinnern sich, obwohl Alter und vielleicht sogar Demenz die Vergangenheit verschleiert haben. Dass Musik die einzigartige Gabe besitzt, diesen Schleier zu lüften, weiß die Hirnforschung schon lange, etliche Dokumentationen gibt es zu dem Thema. Die Musik von damals, sie löst etwas aus in Menschen, an denen andere Reize sonst abprallen.

Musik gegen die Demenz in Duisburg: Trübe Augen glänzen wieder

Das hat auch Wolfram Köpper aus einer Zeitschrift erfahren. Als Mitglied der „Charlys“ tritt er schon lange singend im Karneval der KG Rote Funken auf, an Altweiber auch im Awo-Seniorenheim, ganz logisch, dass auch das neue Konzept hier zum ersten Mal getestet wird. Gemeinsam mit den Sängern Evelin Bünten und Hans-Hermann „Charly“ Braun hat er sich eine Stunde Karaoke-Programm zurechtgelegt, Schlager von den 50ern bis in die 70er, „als Karnevalist hat man ja auch eine soziale Verantwortung“, sagt er, „gerade den Älteren gegenüber“.

Evelin Bünten, Hans-Hermann „Charly“ Braun und Wolfram Köpper (v.r.) begeistern die Bewohner des Duisburger Awo-Seniorenzentrums an der Karl-Jarres-Straße mit Schlagern aus den 50er bis 70er-Jahren.
Evelin Bünten, Hans-Hermann „Charly“ Braun und Wolfram Köpper (v.r.) begeistern die Bewohner des Duisburger Awo-Seniorenzentrums an der Karl-Jarres-Straße mit Schlagern aus den 50er bis 70er-Jahren. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Sollte das Konzept funktionieren, wollen die Charlys, die heute unter dem Namen „Trio Melody“ auftreten, wiederkommen. Den Konjunktiv kann man nach dem ersten Lied aber getrost mit der roten Sonne in der Bucht von Capri versenken, eigentlich muss das Trio wiederkommen. Der ganze Saal singt, Augen, die eben noch trüb waren, glänzen wieder. Wunderbares Mädchen, bald sind wir ein Pärchen. Und wer nicht mehr singen kann, der wippt mit.

Dass die Texte nicht mehr zeitgemäß sind, spielt keine Rolle

Das Publikum singt beinahe lauter als das Trio, dafür sorgt auch das Pflegepersonal. Das ist nämlich ähnlich textsicher wie die Bewohner, tanzt durch die Tischreihen und trällert Duette mit seinen Schützlingen. Ein Glück, wer im Alter Menschen wie diese hat, die sich kümmern. „Die Damen hier hinten haben Tränen in den Augen“, ruft eine Pflegerin, es sind Freudentränen, sicherlich mit ein bisschen Wehmut verbunden – aber wirklich nur ein bisschen. Was sich Köpper und seine Mitstreiter ausgedacht haben, es funktioniert hervorragend, wahrscheinlich sogar besser als gedacht. Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da.

Weißt du noch? Die Bewohner des Awo-Seniorenzentrums an der Karl-Jarres-Straße in Duisburg sind textsicher.
Weißt du noch? Die Bewohner des Awo-Seniorenzentrums an der Karl-Jarres-Straße in Duisburg sind textsicher. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Spätestens bei diesem Gassenhauer von Cliff Richard klatschen alle, die noch klatschen können, mit einem beseelten Gesichtsausdruck. Sind solche Texte noch zeitgemäß? Nein. Ist das in diesem Moment von Bedeutung? Gleiche Antwort. Heute geht es um die Seele, und um die Bewohner des Awo-Seniorenzentrums. „Schön, die alten Lieder“, murmelt eine Dame ihrer Sitznachbarin zu. Ramona, zum Abschied sag’ ich dir Goodbye.

>> MUSIK, ALTER UND DEMENZ: MEHR ZUM THEMA

  • Der vielfach preisgekrönte Dokumentarfilm „Alive Inside – Die Musik meines Lebens“ begleitet den US-amerikanischen Sozialarbeiter Dan Cohen in ein Altenheim und bei seiner Arbeit mit dementen Menschen – die dank der Musik wieder „wach werden“.
  • Einen Trailer zum Film – mit deutschen Untertiteln – gibt es zum Beispiel auf youtube.de.
  • Der deutsche Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer hat sich ausführlich damit auseinandergesetzt, was beim Musikmachen und -hören im Gehirn passiert. Seine Erkenntnisse hat er zum Beispiel in dem Buch „Musik im Kopf“ aufgeschrieben.
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