Dinslaken. Die AfD holt erstmals in einem Dinslakener Wahlbezirk die meisten Stimmen. Dabei ist die Hühnerheide alles andere als ein Problemviertel.

Die Hühnerheide in Hiesfeld ist eines der besseren Wohngebiete in Dinslaken: viele Ein- und Zweifamilienhäuser, Grundschule, Kindergarten, Seniorenheim, Supermarkt, ein hübscher Grüngürtel mit Spielplatz. Alles recht neu, das Gebiet wurde vor rund 15 bis 20 Jahren erschlossen. In der Hühnerheide ist die erste AfD-Hochburg in Dinslaken. Der Wahlbezirk Grundschule Hühnerheide (Wahlbezirk 15.1) ist der erste, in dem die AfD die Mehrheit der Stimmen gewinnen konnte: Mit 25,64 Prozent ist sie hier bei der Europawahl stärkste Kraft vor CDU (23,5) und SPD (20,09). Jeder Vierte wählte hier an der Wahlurne die AfD. Warum?

Dinslaken hat Stadtteile mit sozialen Problemen. Das Blumenviertel etwa oder Lohberg. Nach dem letzten Sozialbericht der Stadt Dinslaken von 2019 haben knapp 60 Prozent der Lohberger einen Migrationshintergrund, hier leben viele junge Menschen, zehn Prozent sind arbeitslos, die SGB II-Quote liegt bei 24 Prozent. Der Anteil Lohbergs an der Gesamtarbeitslosigkeit in Dinslaken beträgt 18,5 Prozent. Auch im Blumenviertel gibt es eine hohe Arbeitslosen- und SGBII-Rate, 30 Prozent der Einwohner haben Migrationshintergrund.

Laut Sozialbericht „eher geringe Probleme und Belastungskonstellationen“

In Hiesfeld, wozu die Hühnerheide und das betreffende Wahllokal gehören, haben 14 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund, vier Prozent sind arbeitslos, rund sieben Prozent beziehen SGB II-Leistungen. Auf Grundlage der Daten müssten dort „eher geringe Probleme und Belastungskonstellationen bestehen“, schließt der Sozialbericht. Im Index sozialer Belastungen ist der Stadtteil unter der roten Linie. Alles andere als ein Problemviertel also.

Immobilienmakler preisen die Hühnerheide als „neu erschlossenes, beliebtes Wohngebiet in Dinslaken-Hiesfeld“ an, das „ruhiges, grünes Wohnen bei gleichzeitig hervorragender Infrastruktur“ biete. Häuser kosten hier aktuell 450.000 Euro aufwärts.

Laut Polizei ein „unauffälliger Stadtteil“

Vor Jahren haben sich Anwohner über randalierende Jugendbanden in der Hühnerheide beklagt. Immer wieder einmal gab es auch Graffiti an der Grundschule. In der letzten Zeit gab es aber keine Probleme mit Kriminalität. Der Stadtteil ist nach Auskunft der Polizei „unauffällig“.

Und dennoch hat im Wahllokal Grundschule Hühnerheide jeder Vierte eine Partei gewählt, die in Teilen als gesichert rechtsextrem gilt. Deren Thüringer Chef Björn Höcke mit SA-Parolen Wahlkampf macht, deren Mitglieder mit homophoben, menschenverachtenden und Holocaust leugnenden Sätzen zitiert werden.

Wechselnde Mehrheiten bei den vergangenen Wahlen

Auch das Wahlverhalten der vergangenen Jahre gibt wenig Aufschluss - außer dem, dass der AfD-Anteil von Wahl zu Wahl gestiegen ist. Bei der letzten Europawahl im Jahr 2019 hatten hier die Grünen mit 24,9 Prozent den höchsten Zuspruch vor SPD und CDU (beide damals 20,71 Prozent), die AfD landete bei 12,13 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2021 holte die SPD in dem Wahlbezirk 33,26 Prozent - die AfD 15,67. Gab es nun eine Wählerwanderung? Von Grünen oder SPD zur AfD? Lag es an der geringen Wahlbeteiligung von nur 50,98 Prozent (in Dinslaken insgesamt 62,30 Prozent)?.

Erklärungsversuche der Politik

So wirklich erklären kann sich das auch die Politik in Dinslaken nicht. Sowohl SPD-Co-Vorsitzender Simon Panke als auch CDU-Fraktionsvorsitzender Heinz Wansing und FDP-Chef Gerald Schädlich überlegen, ob die Ursache darin zu suchen ist, dass die Hühnerheide in den vergangenen Jahren Zuzugsgebiet für Familien war. Im Vergleich zu 2019 gebe es „tatsächlich knapp 130 Wahlberechtigte mehr“ in dem Bereich, rechnet Simon Panke - aber das könnte auch daran liegen, dass diesmal auch 16- und 17-Jährige wählen durften. Oder sind gerade das die jungen Menschen, die die AfD via Tiktok erreicht und die deswegen für sie stimmten - eine Überlegung von Heinz Wansing. Bringt die Stadt in dem Bereich vermehrt Geflüchtete unter? Laut Gerald Schädlich sollen sich Bürger in der Hühnerheide deswegen unsicher fühlen.

Mittlerweile habe sich die AfD „so weit in die wirtschaftliche Mitte reingefräst, dass sie mehrheitlich sogar von Menschen gewählt wird, denen es ganz gut geht im Leben“, sagt Simon Panke und verweist auf eine Umfrage von Infratest, nach der 85 Prozent der Befragten ihre persönliche wirtschaftliche Situation als „gut“ bewerten - und 70 Prozent der AfD-Wähler. Ist es so, dass die Menschen die Partei nicht wegen ihrer rechten Tendenzen wählen - „sondern trotzdem“, wie Gerald Schädlich mutmaßt. Man müsste die AfD häufiger wörtlich zitieren und somit „entlarven“, meint er - bei Demos wie am Samstag in Dinslaken einfach nur dagegen zu sein, sei argumentativ wenig überzeugend.

Die Grünen, die 2019 in dem Wahlbezirk die meisten Stimmen hatten, haben keine Erklärung - man müsste die Bürgerinnen und Bürger in der Hühnerheide fragen, heißt es. Und die Satirepartei Die PARTEI kommentiert das Ganze sarkastisch: „Wir haben das Wahlergebnis nicht zu verantworten. Hier sind andere Parteien mit Sicherheit die besseren Ansprechpartner. Was wir wissen, ist, dass Verlieren in Hiesfeld zum guten Ton gehört: Freibad verloren, Oberligafußball verloren. Dass jetzt aber ein Teil der Hiesfelderinnen und Hiesfelder den Verstand verloren hat, geht zu weit. Wir werden eine Sonderkommission gründen und unterstützen tatkräftig bei der Suche.“