Essen. Das Sozialamt springt ein, wenn die Pflege zu teuer wird. Im Duisburger Rathaus löst das nicht nur finanzielle Sorgen aus.

Es geht um Milliarden: Weil sich immer weniger Menschen das Leben im Heim leisten können, steigen die Sozialhilfeausgaben der Städte. 2023 haben die Kommunen in Deutschland rund 4,5 Milliarden Euro ausgegeben, damit Menschen ihre Rente aufstocken und die Pflege bekommen konnten, die sie brauchten.

Allein in NRW sind die Ausgaben für die sogenannte „Hilfe zur Pflege“ auf fast eine Milliarde Euro geklettert – über 23 Prozent mehr als im Vorjahr. 2022 hatte der Bund zwar Kostenbremsen für Heimbewohner geschaffen. Die haben aber schon wieder an Wirkung verloren.

Duisburger Sozialdezernentin: Pflegevollversicherung muss kommen

Es sei höchste Zeit zu reagieren, sagt Astrid Neese, Sozialdezernentin der Stadt Duisburg. „In der Pflege haben wir nicht fünf, sondern drei Minuten vor zwölf. Wir brauchen eine strukturelle Reform.“ Neese fordert eine Pflegevollversicherung, die anders als bislang die tatsächlichen Pflegekosten voll übernimmt. Ähnlich hatte sich unlängst der Städtetag NRW in einem umfangreichen Pflege-Papier geäußert.

3329 Duisburger erhalten derzeit Hilfe vom Staat, weil sie die Kosten der stationären Pflege nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen decken können. Das sind bei 5263 belegten Heimplätze fast zwei Drittel der Heimbewohner. Ende 2023 waren es laut Landesstatistikamt noch 3075. Im Schnitt erhielten sie monatlich 1625 Euro. 

Für die Menschen sei es oft mit großer Scham verbunden, wenn sie am Lebensende Sozialhilfe beantragen müssen, sagt Neese.  „Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie alles, was sie aufgebaut haben, verlieren und am Ende zum Sozialamt gehen müssen, ist das sehr schwierig. Da entstehen Ängste und Druck in einer Zeit, in der Fürsorge im Vordergrund stehen sollte.“

Für die Beigeordnete ist das nicht nur eine soziale Frage, sondern eine gesellschaftliche. „Wir leben ohnehin in einer Phase, in der verschiedene Gruppen genau hinschauen, wer in ein System einzahlt und wer davon profitiert“, sagt Neese. „Wenn wir es als Gesamtgesellschaft nicht schaffen, die Pflege menschenwürdig abzusichern, birgt das einen enormen gesellschaftlichen Sprengstoff.“ 

In der Pflege sollten die Löhne steigen – das bezahlen die Heimbewohner ganz erheblich mit

Die aktuelle Pflegeversicherung gilt als unterfinanziert und reformbedürftig. Die Leistungen für Pflegebedürftige sind je nach Pflegegrad gedeckelt, zugleich steigen die tatsächlichen Kosten für Personal, Dienstleistungen und Energie – mit Folgen für die ambulante und stationäre Pflege.

In den Heimen führt das dazu, dass die sogenannten Eigenanteile massiv in die Höhe schnellen. Heimbewohner tragen die Kosten für die gesellschaftlich geforderten höheren Löhne in der Pflege ganz erheblich mit, denn Personalkosten machen etwa 80 Prozent der Ausgaben eines Pflegeheims aus. Die Bewohner werden per Bundesgesetz auch an den Ausbildungsausgaben und per Umlage an den Investitionskosten beteiligt. Die Höhe für letzteres nicken die Landschaftsverbände ab.

Astrid Neese, Dezernentin für Bildung, Arbeit und Soziales in Duisburg.

„Wenn wir es als Gesamtgesellschaft nicht schaffen, die Pflege menschenwürdig abzusichern, birgt das einen enormen gesellschaftlichen Sprengstoff.“

Astrid Neese
Sozialdezernentin der Stadt Duisburg

Hilfe zur Pflege in Duisburg: Für 2025 wird mit 80 Millionen Euro gerechnet

Das Problem der Städte ist dabei auch ein finanzielles: Anders als andere Sozialleistungen werden die Ausgaben zur „Hilfe zur Pflege“ nicht refinanziert. Die Rathäuser bleiben also auf dem Geld sitzen. Im Fall von Duisburg bedeutet das: Die Stadt hat zuletzt 74 Millionen Euro für diese Sozialhilfe ausgegeben und plant 2025 mit 80 Millionen Euro. „Tendenz steigend“, sagt Neese. Sie rät Menschen, sich frühzeitig zum Thema Pflege beraten zu lassen. Die Stadt hat dazu Beratungszentren und eine Hotline geschaffen.

Ulrich Christofczik, Geschäftsführer der Evangelischen Dienste Duisburg (EDD) und Sprecher der Arbeitgeberinitiative Ruhrgebietskonferenz Pflege, spricht von einer neuen Generation der Sozialhilfeempfänger. „Das sind Menschen aus der klassischen Mittelschicht, die am Lebensende zum Amt gehen müssen“, so Christofczik. Bei rund 1500 Heimplätzen des Pflege-Unternehmens EDD bezögen drei Viertel der Bewohner Hilfe zur Pflege.

Er erlebe oft großes Unverständnis, auch Ärger und Wut unter Angehörigen über die Eigenanteile. Er könne das auch nachvollziehen: Die Kosten stiegen, die Leistung bleibe die gleiche. „Bei uns gibt es deshalb keine goldenen Wasserhähne.“ Im Gegenteil: Obwohl die Eigenanteile seit Jahren nur eine Richtung kennen, schreiben Pflegebetreiber in NRW sogar rote Zahlen. Sie belastet auch, dass die Sozialämter bei den vielen Anträgen auf Hilfe zur Pflege nicht hinterherkommen und die Betreiber über Wochen in Vorleistung treten müssen.

Christofczik kritisiert: „Weil der Bund mit seiner Pflegereform nicht vorankommt, haben die Kommunen, die Menschen und auch die Pflegeeinrichtungen das Nachsehen. Wir sitzen da alle in einem Boot.“

Pflege-Manager: Bewohner von Ausbilungskosten befreien

Ulrich Christofczik ist Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege und Chef der Evangelischen Dienste Duisburg. Er warnt davor, dass Populisten die Pflege als Wahlkampfthema ausschlachten.
Ulrich Christofczik ist Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege und Chef der Evangelischen Dienste Duisburg. Er warnt davor, dass Populisten die Pflege als Wahlkampfthema ausschlachten. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Mit kleineren Reparaturarbeiten ließe sich das System nicht kitten – aber vor der großen Reform könnten erste Schritte helfen: Nicht die Leistungen der Pflegekassen, sondern die Eigenanteile müssten gedeckelt werden, sagt er. Investitionskosten müssten zudem von den Ländern getragen und die Ausbildungsumlage von der Heimrechnung gestrichen werden. „Wir in den Einrichtungen müssen uns aber auch anders aufstellen und lernen, mit weniger Personal mehr Menschen zu pflegen“, sagt Christofczik. Alle Modelle aus den 90er-Jahre gehörten auf den Prüfstand – dazu gehöre auch die starre Fachkräftequote.

Die Zeit dränge. „Noch sind wir vor der Welle“, sagt der Pflege-Fachmann. Berechnungen des Deutschen Instituts für Pflegeforschung in Köln zeigen: In Teilen des Ruhrgebiets wird die Zahl der Menschen über 75 Jahre bis zum Jahr 2040 um bis zu 40 Prozent steigen. „Wenn Politik es nicht schafft, dieses große Thema Pflegebedürftigkeit und demografischer Wandel anzugehen, dann wird das ein großes Spielfeld der Populisten“, warnt Christofczik. Schon seien erste Anläufe populistischer Anheizer zu sehen.

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