Bochum. Beim Säureanschlag aufs „Fräulein Coffea“ in Bochum wurden elf Menschen verletzt. Am schlimmsten hat es Dhia getroffen. Das ist seine Geschichte.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist im September 2024 erschienen. Zum Jahresende blicken wir noch einmal zurück.
Es sind Sekunden. Dann frisst sich der Schmerz wie Feuer in den Körper. Ein Geruch wie Asphalt. Ein Mann – schwarze Kapuze, Tattoo im Gesicht – rennt weg. Der Kuchen auf dem Teller: unberührt. „Erst kam die Bestellung, dann der Terrorist. Ich kann mich an jedes Detail dieses Tages erinnern, an jede Sekunde“, sagt Dhia (31) leise und schaut zu Boden.
An diesem Tag, einem sommerlich-schönen Sonntag Ende Juni, spritzt ein Mann hoch konzentrierte Schwefelsäure auf Gäste des Cafés „Fräulein Coffea“ nahe dem Bochumer Schauspielhaus. Elf Menschen werden bei dem Anschlag verletzt. Dhia (31) trifft es am schlimmsten. Seinen ganzen Namen, sein Gesicht möchte er nicht zeigen. Zu groß ist seine Sorge vor den Tätern.
Die Menschen und Geschichten haben Bochum 2024 berührt
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Ist er Opfer geworden, weil er Sekunden vorher auf Arabisch mit einem Freund telefoniert hatte? „Für mich ist das ein Nazi-Attentat gewesen“, sagt Dhia. Das tunesische Generalkonsulat geht bei dem Anschlag ebenfalls von einem rassistischen Motiv aus. Von Polizei und Staatsanwaltschaft heißt es dagegen bisher, dass weder ein politisches noch ein persönliches Motiv auf der Hand liege. Täter und Opfer kannten sich nicht.
Säure-Anschlag auf Café in Bochum: Opfer sieht den Täter nicht kommen
Der Student sieht den Täter damals nicht kommen, sitzt mit dem Rücken zu ihm. Aus einer Schnapsflasche spritzt der Mann die Schwefelsäure auf die Menschen. „Es fühlte sich auf einmal schwer auf meinem Kopf und meinen Schultern an. Ich habe ein paar Schritte gemacht, wollte ihm hinterher, aber der Schmerz war zu doll.“ Passanten laufen dem Täter hinterher. Gäste schütten Wasser über Dhia.
Die Feuerwehr ist schnell vor Ort. „Ich musste mich nackt ausziehen, dann haben die mich mitten auf der Straße abgeduscht. Alle konnten das sehen.“ Dann nur noch Schmerz. „Mein Leben hat sich um 180 Grad gedreht.“
Ende 2015 fürs Studium aus Tunesien nach Deutschland gekommen
Zweieinhalb Monate, drei Operationen und unzählige Schmerzmittel später ist der Student wieder zuhause. Endlich. Ein Foto im Wohnzimmer der kleinen Wohnung nahe der Innenstadt zeigt ein glückliches Paar: Dhia im Anzug, seine Frau Angela im Brautkleid. Im Hintergrund die Hattinger Henrichshütte. Ein Hochzeitsfoto.
„„Ich habe Bochum sehr geliebt, das ist meine Heimat geworden. Aber vielleicht muss ich sie verlassen, um vergessen zu können.“ “
Dhia lässt sich in den Sessel sinken. Er bewegt sich langsam, vorsichtig. Die transplantierte Haut an seinen Schultern spannt. „Schmerzen sind immer da.“ Schultern, Nacken, Gesicht, Beine, Arme. Überall hat die Säure gewütet. Dhia zeigt seine Wunden, er will, dass sein Schmerz nicht vergessen wird. Er will wissen: warum? „Die Ungewissheit, das ist das Schlimmste für mich.“
2015 kam der gebürtige Tunesier zum Studieren nach Deutschland. „Ich habe immer von meinem eigenen Geld gelebt“, das ist ihm wichtig. Nach einem Sprachkurs belegt er Kurse an der Ruhr-Uni, lernt dort 2019 seine Frau Angela kennen. „Ich habe in der Uni-Bibliothek als Barista gearbeitet und sie bedient.“
Die beiden verlieben sich, ziehen in der Corona-Pandemie zusammen. Dhia beginnt ein Masterstudium im Bauingenieurwesen in Mülheim, arbeitet Teilzeit als Bauingenieur im Technologiequartier. „Ich habe nie eine Straftat begangen und am Ende bin ich so belohnt worden.“
Ängste prägen das Leben des 31-Jährigen
Dhia arbeitet nicht mehr, schläft viel. Ist viel zuhause. Er muss Sonne meiden, mindestens zwei Jahre lang. „Ich gehe zum Krankenhaus, mal zum Supermarkt. Aber es ist schwierig, draußen zu sein und fremden Menschen zu vertrauen. Ausgerechnet in einer Ecke, wo Künstler, offene und coole Menschen leben, kommt so ein Drecksack, so ein Terrorist.“
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Der 31-Jährige hat Angst. Angst, dass er vergessen wird. Dass ein Attentat auf einen Ausländer für viele nicht so schlimm ist. Angst, dass so etwas noch einmal passieren könnte. Angst, seine Leichtigkeit nicht mehr wiederzufinden. Im September hätte er mit seiner Masterarbeit angefangen, vorher war ein Tunesien-Urlaub geplant. Stattdessen: Verbandswechsel, Trauma-Therapie und große Sorgen. Wie schlimm werden die Narben? „Kann ich mir OPs leisten, die mich wieder herstellen?“
Und wie geht‘s in Bochum weiter? Angela legt ihre Hand auf das unversehrte Knie ihres Mannes. Der schluckt. „Ich habe Bochum sehr geliebt, das ist meine Heimat geworden. Aber vielleicht muss ich sie verlassen, um vergessen zu können.“
Awo sammelt Spenden
Die Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Bochum sammelt Spenden für Dhia. Auf einem Konto sind bisher insgesamt 22.000 Euro eingegangen. Dhia möchte das Geld unter anderem für Operationen nutzen, die die Krankenkasse vielleicht nicht übernehmen wird.
Das Konto ist weiter geöffnet: Inhaber: AWO Bochum, IBAN: DE75 4305 0001 0001 2088 18, Stichwort: Dhia.