Langenfeld. Kurz vor der Gesellenprüfung sollte Dachdecker-Lehrling Sekou Sidibe wieder zurück nach Afrika. Am Montag erhielt er die Duldung. Bis Dezember.

Wende im Drama um den Gunieer Sekou Sidibe. Die Stadt Leverkusen hat dem 24-jährigen Dachdecker-Lehrling am heutigen Montag (23.9.) eine „Aussetzung der Abschiebung“ erteilt. Bis 22. Dezember darf er in Deutschland bleiben – und sogar seine Ausbildung fortsetzen. „Wir sind so happy“, sagt sein Freund und Mentor Bruno Hentschel.

Die WAZ berichtete am 13. September erstmals über das Schicksal des jungen Afrikaners. Lesen Sie hier seine ganze irrwitzige Geschichte – und was dann passierte.

Seit zweieinhalb Jahren wird Sekou Sidibe in Langenfeld zum Dachdecker ausgebildet, im Frühjahr kann er seine Gesellenprüfung ablegen. Sein Chef, Abbas Süren, schwärmt von dem Lehrling aus Afrika, er traut dem 24 Jahre alten Flüchtling auch den Meisterbrief zu. Doch Sekou Sidibe soll Deutschland verlassen. Der Hintergrund: eine aberwitzige Abschiebe-Geschichte.

Geboren ist Sekou Sidibe in Faranah in Guinea. Als sein Vater stirbt, die Mutter ist da schon tot, ist er noch ein Kind. Er muss die Schule abbrechen, wird zu seinem älteren Bruder nach Mali geschickt, dem einzigen lebenden Verwandten. Mit ihm zusammen macht er sich 2017 auf den Weg nach Europa – eine Zukunft dort ist der große Traum des großen Bruders. In einem Schlauchboot wollen die Schleuser sie übers Mittelmeer bringen, zusammen mit 70 anderen Menschen. „Viel zu viele für das kleine Boot“, erinnert sich Sidibe. Anderthalb Wochen seien sie unterwegs gewesen, als das Unwetter kam. „Sehr viele Menschen sind ertrunken.“ Auch sein Bruder ist einer der Toten.

Langenfeld - Dachdecker-Lehrling Sekou Sidibe
Das Arbeiten hat ihm die Ausländerbehörde verboten, bis Montag (16.9.) muss Sekou Sidibe Deutschland verlassen haben, sonst droht ihm erneut die Abschiebung. Nur für den Fotografen nimmt er deswegen den Lötkolben kurz in die Hand. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Asylantrag abgeleht, Duldung erteilt

Sekou, damals 18, landet allein in einem Auffanglager im spanischen Almeria. „Mein Onkel lebt in Deutschland“, sagt ein anderer Flüchtling. „Komm doch mit mir!“ Am 19. April 2018 stellt Sekou Sidibe seinen Asylantrag in Deutschland, wird später einer Flüchtlingsunterkunft in Leverkusen zugewiesen. Zwei Jahre später, da hat der Guineer seinen Integrations- und Sprachkurs schon erfolgreich abgeschlossen, wird der Asylantrag abgelehnt – aber eine Duldung nach §60b des Aufenthaltsgesetzes erteilt (s. Info). Im August 2022 ändern die Behörden sie in eine Duldung nach §60a um – nun darf Sidibe auch arbeiten.

Er bewirbt sich bei Abbas Süren. Der Dachdeckermeister aus Langenfeld bei Düsseldorf lädt Sidibe zum Probearbeiten ein – und ist begeistert: „Sekou war pünktlich, der war fleißig, der hat alle nötigen Papiere vorgelegt. Der hat sofort einen Ausbildungsvertrag bekommen. Es ist so schwer, vernünftige Azubis zu finden.“

Gesellenprüfung im Frühjahr

Und Sidibe bewährt sich. Die Arbeit mache ihm großen Spaß, erzählt er, „vor allem das Eindecken und Schweißen“. „Der gibt richtig Gas, der will nichts geschenkt haben“, sagt sein Chef. Dass er seinen Lehrling nach der Gesellenprüfung im Frühjahr 2025 übernimmt, hat er bereits zugesagt.

Langenfeld - Dachdecker-Lehrling Sekou Sidibe
Dachdeckermeister Abbas Süren und seine Sekretärin Christine Schmidt schwärmen in den höchsten Tönen von Azubi Sekou Sidibe – und seinen „Berichtbüchern“. „Akribischer, ausführlicher als die alle anderen, Sekou fügt sogar Skizzen ein und hängt Berechnungen an“, erklärt Schmidt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

„Ans Herz gewachsen“ ist der junge Guineer auch Bruno Hentschel und seiner Frau. 2018 lernten sich der freiberufliche Grafikdesigner und der Flüchtling kennen, inzwischen verbindet sie eine enge Freundschaft. Der 62-jährige Langenfelder unterstützt den jungen Afrikaner in seinem Kampf ums Bleiberecht. „Sekou fordert überhaupt nichts“, sagt auch er. „Im Gegenteil, er ist extrem hilfsbereit.“ Hentschel ist es, der erzählt, dass der Flüchtling nach der Flutkatastrophe im Ahrtal sofort mit einem Freiwilligentrupp aufgebrochen sei, um vor Ort bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Sidibe selbst sagt nur, er schäme sich so für seine Situation.

Verhaftung im Ausländeramt

Im August 2023 befindet die Ausländerbehörde, dass der Flüchtling sich zu wenig um seine „Identitätsklärung“ kümmere. Sie duldet ihn nun wieder nur noch nach §60b AufenthG – womit ein Beschäftigungsverbot einhergeht. Als Sidibe einen „titre de voyage“, eine Art Passersatz, beantragt: darf er wieder arbeiten. Es folgen weitere Anträge, Ablehnungen und Ablehnungen der Ablehnungen – ein schier undurchschaubares Hin und Her. „Sidibe war nicht einen Tag krank“, erzählt Süren. „Wenn er fehlte, war er beim Amt.“

Auch am Morgen des 27. August 2024 schickt der angehende Dachdecker seinem Meister eine WhatsApp-Nachricht: „Chef, hab einen Termin bei der Behörde, muss meine Papiere verlängern, komme etwas später, bitte um Entschuldigung“. Doch Sidibe kommt an diesem Tag nicht mehr zur Arbeit, er wird im Ausländeramt verhaftet.

In Handschellen bringen ihn vier Polizisten erst zum Gericht, dann in die Abschiebehaft nach Büren. Er müsse Deutschland jetzt verlassen, erklärt man ihm.

Bruno Hentschel. Abschiebe-Irrsinn um den Dachdecker-Lehrling Sekou Sidibe. Der 24-jährige aus Guinea steckt im dritten Lehrjahr, spricht fließend deutsch und ist bestens integriert. Dennoch wurde er abgeschoben. Guineas Behörden schickten ihn wieder zurück. Interview in seinem Ausbildungsbetrieb in Langenfeld am Dienstag den 10.09.2024.  Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services

„„Rechtlich mag das alles korrekt sein. Aber in Ordnung ist es nicht.“

Bruno Hentschel

Sidibe sagt, er habe gar nicht mehr aufhören können zu weinen. Er sei doch kein Krimineller. Erst als er am 30. August tatsächlich im Flugzeug sitzt, neben sich drei Polizisten und ein Arzt, wie es das Gesetz vorschreibt, hört er auf zu weinen, da lässt er „alle Hoffnung fahren“. Doch: Guinea will ihn auch nicht. Die Behörden verweigern die Einreise – „aus bisher ungeklärten Gründen“, erklärt die Stadt Leverkusen, alle nötigen Unterlagen hätten vorgelegen. Guinea schickt Sidibe und seine vier Begleiter trotzdem zurück.

Am Sonntag, dem 1. September, landet der Flüchtling aus Afrika wieder in Frankfurt. Man drückt ihm ein Bahnticket in die Hand, sagt, er solle sich am Montag bei der Ausländerbehörde in Leverkusen melden. „Ich war völlig durcheinander und total überfordert“, erzählt Sidibe.

Stadt: Die Entscheidung ist gerichtlich geprüft und bestätigt worden

Und er ist es bis heute. Er könne gar nicht mehr schlafen, erzählt er. Grübele nur noch: Was wird? Denn an jenem Montag erklärt ihm die Behörde: Es habe sich nichts geändert, er müsse Deutschland verlassen. Man erteilt ihm eine „vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung“, gibt ihm eine Woche, das Land freiwillig zu verlassen. Ist er dann nicht weg, drohe ihm erneut die Abschiebung.

Die von der Ausländerbehörde getroffene Entscheidung sei gerichtlich überprüft und bestätigt worden, schreibt die Stadt Leverkusen auf Anfrage. Sekou Sidibe sei nach Ablehnung seines Asylantrags „seinen Mitwirkungspflichten in Bezug auf die Beschaffung von Reisedokumenten auf mehreren Ebenen nicht oder nur sehr zögerlich nachgekommen“, erklärt Sprecherin Britta Meyer, und daher „vollziehbar ausreisepflichtig“.

Sie weist auf die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise hin, so könne Sidibe auch das mit einer Abschiebung verbundene 30-monatige Einreise- und Aufenthaltsverbot vermeiden – und seine Wiedereinreise nach Deutschland im Rahmen eines regulären Visumverfahrens selbst in die Hand nehmen.

Abschiebe-Irrsinn um den Dachdecker-Lehrling Sekou Sidibe. Der 24-jährige aus Guinea steckt im dritten Lehrjahr, spricht fließend deutsch und ist bestens integriert. Dennoch wurde er abgeschoben. Guineas Behörden schickten ihn wieder zurück. Interview in seinem Ausbildungsbetrieb in Langenfeld am Dienstag den 10.09.2024.  Foto: Lars Heidrich / FUNKE Foto Services

„Was soll ich in Guinea? Da gibt es keine Dachlatten und keine Dachziegel.“

Sekou Sidibe

Keine Option für den 24-Jährigen: Er will wenigstens seine Ausbildung hier beenden, möglichst für immer bleiben. Er fürchtet, dass man ihn nie wieder nach Deutschland hinein lassen wird, sobald er das Land einmal verlassen habe. Er fragt: „Wie soll ich den Flug nach Guinea bezahlen? Warum sollte mich Guinea dieses Mal einreisen lassen?“ Und: „Was soll ich da? Deutschland ist jetzt meine Heimat.“

Auch Abbas Süren und Bruno Hentschel raten von einer freiwilligen Ausreise ab: Nach der furchtbaren Messerattacke eines Flüchtlings in Solingen werde die erneute Einreise aus Guinea nach Deutschland nicht leichter, ahnen sie.

„Warum haben sie zugelassen, dass ich eine Ausbildung anfange“

Sidibe selbst blickt kaum noch durch. Er versteht, dass sein Asylantrag abgelehnt wurde und er Deutschland deshalb verlassen muss. „Aber warum“, fragt er, „warum haben sie dann zugelassen, dass ich hier eine Ausbildung anfangen durfte, warum haben sie mir dann mir eine Arbeitserlaubnis erteilt?“

Am vergangenen Montag wird dem Afrikaner noch einmal eine auf sieben Tage befristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Noch sei ein Eilverfahren im Verwaltungsgericht Köln anhängig, auch ein Antrag bei der Härtefallkommission sei gestellt, erklärt die Stadt. Britta Meyer: „Der Fortgang des Verfahrens muss nun abgewartet werden.“

„Warum muss einer gehen, der Bock auf Arbeit hat?“

Die Stadtsprecherin widerspricht nicht, als man ihr vorhält, dass Sidibe genau den „Migrantentyp“ verkörpert, den Politik und Wirtschaft gern nach Deutschland locken wollen. Er steht auf eigenen Füßen, zahlt Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, erlernt ein Handwerk, das Nachwuchs sucht. Doch Meyer betont: „Grundsätzlich darf nach Ablehnung eines Asylantrages ein Aufenthaltstitel (...) nur unter engen Voraussetzungen erteilt werden (...) Diese Voraussetzungen erfüllt Herr Sidibe nicht.“

„Die Ausländerbehörden machen auch nur ihren Job“, meint Bruno Hentschel. „Rechtlich mag das alles korrekt sein. Aber in Ordnung ist es nicht. Warum muss einer gehen, der Bock auf Arbeit hat – in einer Branche, der es an Fachkräften mangelt?“

Wenn am Montag, 16. September, die Frist abläuft, muss sich Sekou Sidibe erneut beim Ausländeramt melden. Und vielleicht werden dann wieder Menschen vor dem Rathaus für sein Bleiberecht demonstrieren, so wie eine Woche zuvor. „Deutschland braucht Sekou“, war auf ihren Plakaten zu lesen. „Schiebt nicht die Falschen ab!“

Update 17. September: Am heutigen Montag (16.9.) hat die Stadt Leverkusen Sekou Sidibe erneut eine „vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung“ erteilt, offiziell: eine „Bescheinigung über den vorübergehenden Aufenthalt ohne amtliche Aufenthaltsdokumente“. . Sekou darf also bleiben – aber wieder nur für eine Woche. Und er darf noch immer nicht wieder arbeiten.... Der nächste Termin im Amt ist für kommenden Montag (23.9.) vereinbart. „Nächste Woche selbe Stelle, selbe Welle“, sagt sein Langenfelder Freund Bruno Hentschel. „Es ist ermüdend.“

Update 18. September: Schon wieder gibt es Neues im „Fall Sekou Sidibe“. Seine Unterstützer haben auf dem Portal change.org eine Petition an die Bundesinnenministerin gestartet. „Verhindern Sie die Abschiebung“ fordern sie. Weit über 1000 Menschen haben bereits unterzeichnet, allein am heutigen Mittwoch waren es mehr als 700. „Menschen wie Sidibe, die sich integrieren und hilfsbereit sind, (sind) eine Bereicherung für unsere Gesellschaft in Deutschland“, heißt es in einem Kommentar. „Solche Menschen sollen bleiben und Straftäter abgeschoben werden, nicht umgekehrt!“

Auch der Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks ZVDH hat auf Facebook eine Stellungnahme veröffentlicht. Für Hauptgeschäftsführer Ulrich Marx ist die geplante Abschiebung des Guineers „völlig unverständlich“. „Herr Sidibe ist nicht nur ein hoch motivierter junger Mann, der sich in einem Berufsfeld ausbilden lässt, das händeringend Nachwuchs sucht – er ist auch Beispiel für gelungene Integration und den Willen, seinen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Die 3+2-Regelung, die extra für solche Fälle geschaffen wurde, sichert geduldeten Auszubildenden das Recht zu, ihre Ausbildung abzuschließen und danach für mindestens zwei Jahre im Betrieb weiterzuarbeiten.“ Dass diese Regelung keine Anwendung finde, nennt Marx „schwer nachvollziehbar.“

Update 23. September: Der vorerst letzte Termin für Sekou Sidibe im Leverkusener Ausländeramt endet mit reichlich Tränen: Freudentränen. Denn die Stadt erteilt ihm eine Duldung für drei Monate. Bis 22. Dezember darf der Guineer in Deutschland bleiben. Und er darf zudem seine Dachdecker-Ausbildung bei Abbas Süren fortsetzen, das ist ihm amtlich bescheinigt sogar bis zum 31. Juli 2025 erlaubt. Es war sein sehnlichster Wunsch gewesen, Fotos zeigen Lehrling und Chef Arm in Arm inmitten vieler Unterstützer, beim Feiern in einem Café am Montag – nach dem Behördentermin.

Die Duldung erlische nur, heißt es in den Papieren, die Sidibe ausgehändigt wurden, „wenn die Flugrückführung nach Guinea wieder möglich ist und dieses dem Duldungsinhaber bekannt gegeben wird“. Dass die Stadt ihre Meinung nun geändert hat, geht offenbar auf eine Empfehlung der Härtefallkommission zurück, der Sidibes Fall vorliegt. „Die Empfehlung der Härtefallkommission sieht nun vor, dass Herr Sidibe schnellstmöglich die erforderlichen Papiere für die Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung beibringt“, heißt es in einer Stellungnahme. „Dafür erhielt er heute eine Duldung für die Dauer von drei Monaten, damit er die Möglichkeit erhält, seine Ausbildung erneut aufzunehmen.“
Das Schicksal des 24-jährigen Afrikaners hatte weit über Leverkusens Grenzen hinaus für Empörung gesorgt. Eine Insta-Nutzerin hatte in ihrem Kommentar zum Post der WAZ-Redaktion sogar angeboten: „Ich werde den Typen heiraten, dann darf er nicht ausreisen.“

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>>>INFO Duldung

Ist die Frist zur freiwilligen Ausreise abgelaufen und liegen keine Abschiebehindernisse vor, muss ein Flüchtling eigentlich abgeschoben werden. Die Ausländerbehörde kann seinen Verbleib in Deutschland aber unter Umständen „dulden“.

In §60a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) geht es um die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung), etwa aus humanitären Gründen. §60b regelt die „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“.