Essen. Politikexperte Marschall erklärt, was die Erfolge der AfD in Thüringen und Sachsen für NRW bedeuten - und welche Chance der SPD bleibt.

Nicht nur in ostdeutschen Ländern feiert die AfD Erfolge. Bei den jüngsten Europawahlen hat die Partei vor allem in nördlichen Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen und Herne viele Wählerstimmen bekommen. Was die Wahlen in Osten fürs Ruhrgebiet bedeuten könnten und was diese Entwicklung mit der Pandemie zu tun hat, darüber sprach die Redaktion mit Stefan Marschall, Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt „Politisches System Deutschlands“.

Prof. Marschall, ist der Erfolg der AfD ein Ostphänomen?

Marschall: Nein. Man sieht ihn dort aber deutlicher, weil im Osten bestimmte Rahmenbedingungen stärker sind, die der AfD in die Karten spielen.

Welche sind das?

Marschall: Überall im Land werden Wählerinnen und Wähler immer beweglicher. Das heißt, dass sie nicht immer die gleiche Partei wählen. Das hat damit zu tun, dass sich unsere klassischen sozialen Milieus auflösen und die Gesellschaft stark individualisiert ist. Die Leute schauen, welche Partei mit ihren Angeboten gerade besonders passt. In Ostdeutschland zeigt sich das besonders deutlich, weil westdeutsche Parteien dort selten eine starke Identifikation aufbauen konnten. 

Warum profitiert die AfD so sehr von dieser Entwicklung?

Marschall: Wir leben in einer Gesellschaft, die viele Krisen erlebt und erlebt hat. Je größer die Verunsicherung in der Gesellschaft ist, umso eher gelingt es Parteien wie der AfD, an Boden zu gewinnen. Die AfD hat einige Punkte, die sie für Wähler attraktiv machen. Sie tritt im Gegensatz zu den Ampelparteien vergleichsweise geeint auf, verfolgt einen kompromisslosen Kurs und bietet sehr einfache, vermeintlich schnelle Lösungen auf sehr komplexe Fragen.

In Gelsenkirchen feierte die AfD bei den EU-Wahlen Erfolge. Droht uns ein AfD-Oberbürgermeister?

Marschall: In NRW gibt es auch Strukturen, die die Menschen anfälliger für populistische Parteien machen. Das gilt für das nördliche Ruhrgebiet, aber nicht nur. Auch im ländlichen Raum von NRW sehen wir Erfolge der AfD. Es geht oft um Menschen, die verunsichert sind und sich nicht genug gesehen fühlen mit ihren Problemen.

Also ein AfD-Politiker als Stadtchef?

Marschall: Ausschließen kann man heute nichts. Wir haben im Westen aber eine andere Situation als im Osten. Trotz aller Niederlagen sind die SPD und die anderen demokratischen Parteien hier immer noch verankert und präsent. Die AfD-Ergebnisse in Gelsenkirchen waren für die Europawahl markant, aber auf kommunaler Ebene wählen die Menschen doch oft anders. 

Ist es den Menschen egal, dass sie da Rechtsextreme wählen?

Marschall: In Thüringen oder Sachsen, wo die Landesverbände gesichert rechtsextrem sind, scheint das jedenfalls kein Punkt zu sein. Interessant ist, dass die AfD zwar gewählt wird, viele AfD-Wähler aber nicht wollen, dass die Partei regiert. Sie wollen ein Zeichen des Protests setzen.

Geschätzte 20.000 Menschen demonstrierten im Juni gegen den Parteitag der AfD in Essen.
Geschätzte 20.000 Menschen demonstrierten im Juni gegen den Parteitag der AfD in Essen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Aber solche Zeichen hat es doch ausreichend gegeben.

Marschall: Ja, das stimmt, aber aus Sicht dieser Menschen hat sich eben nichts oder nicht genug geändert. Das ist aber auch schwer. In der Politik muss man Kompromisse schließen, man ist gewissen Zwängen unterlegen.

In der Pandemie und jetzt beim Ukraine-Krieg wird die jeweils andere Meinung fast dämonisiert. Drängen wir die Menschen in die Arme der Populisten?

Marschall: In der Gesellschaft gibt es tatsächlich mehr und mehr die Unfähigkeit, die Position des anderen zu verstehen. Das ist Teil einer Polarisierung, die wir sehr deutlich und schon vor der Corona-Zeit beobachtet haben. In der Pandemie trafen Positionen fast dogmatisch aufeinander. Populistische Parteien befeuern das und profitieren von dieser Entwicklung. Eine Strategie der AfD war ja früh, die Glaubwürdigkeit der Medien infrage zu stellen und so eine Gegenöffentlichkeit in den sozialen Medien aufzubauen, in der stark polarisiert wird. Mit Erfolg, wenn man auf die EU-Wahlergebnisse bei Jungwählern guckt.

Immer mehr Menschen umschiffen politische Themen, um Streit zu verhindern.

Marschall: Und das ist fatal. Wir brauchen den Austausch.

Hochrangige Politiker entgegnen, dass man bestimmte Menschen nicht mehr erreichen kann, weil sie ihnen nicht glauben.

Marschall: Wir sprechen hier in NRW bei den AfD-Wählern nicht über die Mehrheit der Gesellschaft. Es geht um ein Segment, das droht, sich zu verschließen. Viele dieser Menschen sind schwer zu erreichen, ja, das sind die Einstellungswähler. Aber es gibt eine Grauzone, Menschen, die in der AfD-Wahl eher einen Protest sehen. Um die muss es gehen.

Wie?

Marschall: In NRW ist die Partei nur bedingt auf einem Siegeszug. Es gibt Wahlergebnisse in bestimmten Regionen, ja, aber die Erfolge schwanken sehr stark. Man muss also schauen, was dazu führt, dass sie in bestimmten Regionen weniger gut aufgestellt ist. Oft hängt es an starken kommunalen Gesichtern der anderen Parteien. In diesem Wählermarkt müssen die Parteien gute personelle Angebote haben und die Themen identifizieren, die Verunsicherung steigen lassen – und diese Themen angehen. Das gilt besonders für das Thema Migration, mit dem die AfD von Anfang an mobilisieren konnte.

Wird die AfD deshalb von den Morden von Solingen profitieren?

Marschall: Das muss man sehen. Bei Innerer Sicherheit wird auch die CDU als Kompetenzpartei gesehen, sie kann genauso gewinnen.

Ist die Brandmauer der etablierten Parteien die richtige Strategie?

Marschall: Die Parteien sind in einer schwierigen Situation. Sie müssen sich abgrenzen und klar machen, mit wem sie zusammenarbeiten wollen und mit wem nicht. Das erwarten Wähler auch. Aber auf der kommunalen Ebene ist es oft schwieriger. Ein guter Antrag im Rat wird nicht schlecht, nur weil auch die AfD für ihn stimmt.

Wie sehr ist die Stärke der AfD auch die Schwäche der SPD?

Marschall: In NRW ist es für die SPD sehr schwer geworden, weil sich die CDU in NRW mit einem sehr präsenten Ministerpräsidenten und auch als eine Art Arbeiterpartei profiliert. Im Prinzip fehlen der SPD eine Identifikationsfigur und ein zentrales Thema.

Sehen Sie ein Thema?

Marschall: Die SPD wird immer noch als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen. Diesen Punkt zu stärken, scheint mir ein Weg zu sein. Im Prinzip kann man Ihre Frage auch so beantworten: Die Schwäche der zerstrittenen Linken könnte eine Chance für die SPD sein.