Dortmund. Warum Mädchen und Jungen wie Maxi in Dortmund ihren Körper verkaufen müssen – und die Täter fast immer davonkommen.
Der Mann holte Maxi mit dem Mercedes ab. Fuhr mit ihm durch die Nacht. Mitten im Wald parkte er vor einer Villa, küsste Maxi auf den Mund. „Was hast du?“, fragte der Mann. „Ich habe das noch nie gemacht“, sagte Maxi. Der Mann strahlte.
Im Schlafzimmer gab er Maxi ein Glas Wasser. Schmeckt komisch, dachte Maxi. Der Mann drückte auf die Fernbedienung, machte einen Porno an. Widerlich, dachte Maxi. Dann fing der Mann an, ihn auszuziehen. Das T-Shirt, die Hose, die Boxershorts. „Leg dich aufs Bett, ich massiere dich“, sagte der Mann. Widerlich, dachte Maxi wieder. Er war damals 15 Jahre alt.
An dieser Stelle muss eine Warnung stehen: Sie werden in diesem Text verstörende Schilderungen lesen. Es geht um ein entsetzliches Verbrechen, das jeden Tag in Deutschland begangen wird. Die Opfer leiden häufig ein Leben lang, die Täter werden aber so gut wie nie gefasst. Es geht um Prostitution von Kindern und Jugendlichen.
Acht Monate lang hat diese Redaktion recherchiert. Wir haben mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Polizisten, Staatsanwälten und Anwältinnen gesprochen, Opfer getroffen und Schilderungen von Tätern gelesen. Wir haben Dutzende Gespräche geführt, Hunderte Seiten Akten gesichtet.
Die bittere Erkenntnis: Es gibt Orte in Deutschland, an denen man Sex mit einem Kind für 20 Euro kaufen kann. Das ist ein offenes Geheimnis. Doch es gelingt fast nie, die Täter zu erwischen. Es gibt einen Teufelskreis des Schweigens, den die Behörden verzweifelt beobachten, aber nicht durchbrechen können. Wer verstehen will, warum das so ist, muss in die Nordstadt von Dortmund fahren.
„Meine Mutter hatte die Idee: Sie kann mich einfach an ältere Männer verkaufen“
Der Nordmarkt in Dortmund ist ein kleiner Park, einige Hundert Meter Luftlinie nördlich des Hauptbahnhofs. Auf den Bänken sitzen an diesem Tag im Frühsommer Drogenabhängige, der Blick verschleiert, die Crackpfeife noch auf dem Schoß. Auf den Wiesen liegen Wohnungslose, die so gefangen im Rausch sind, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Zwischen ihnen spielen Kinder. An der Straße parkt ein Mannschaftswagen der Polizei. Die Beamten beobachten einen Streit zwischen zwei Drogenabhängigen, ohne einzugreifen.
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Auf wenigen Hundert Metern rücken in der Dortmunder Nordstadt die Abgründe einer modernen Großstadt in den Fokus. Die Fassaden der einst prunkvollen Gründerzeitbauten sind beschmiert und verdreckt. Viele Menschen leben hier am sozialen Existenzminimum, sehr viele kommen aus Südosteuropa. Wenn es warm ist, treffen sie sich auf der Straße, picknicken am Bordstein, lachen, haben Musik angestellt. Immer wieder sind Martinshörner zu hören. Zwischen den feiernden Gruppen liegen bewegungsunfähige Junkies.
Deutschland, das hatte Maxi sich anders vorgestellt. Er wuchs bei einer Pflegefamilie in Rumänien auf. Als er 14 Jahre alt wurde, holte seine Mutter ihn zu sich in die Dortmunder Nordstadt. Er freute sich, zum ersten Mal mit ihr und seinen Geschwistern zusammenleben zu können. Ein Jahr lang ging das gut – dann outete er sich. „Ich habe gesagt: Mama, mir gefallen Jungs“, erzählt Maxi heute. „Sie hat mich kaputt geschlagen.“
„Ich habe gesagt: Mama, mir gefallen Jungs. Sie hat mich kaputt geschlagen. “
Bis wir Maxi (Name geändert) treffen konnten, hat es Monate gedauert. Wer in der Nordstadt mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern spricht, mit Cafébesitzern, mit Polizisten, der hört immer wieder, wie groß das Thema Kinderprostitution angeblich ist. Jeder hat von den Gerüchten gehört, viele können von Fällen und Schauplätzen berichten. „Ich hatte mich schon gefragt, wann endlich mal jemand darüber berichtet“, sagt ein Sozialarbeiter am Telefon.
Doch sobald es konkret wird, werden die Sozialarbeitenden, die Anwältinnen und Anwälte, die Aktivisten und Aktivistinnen schweigsam. Detailliert können sie von den Strukturen berichten, aber selbst sie kommen nur schwer an die Betroffenen heran, fürchten, ihr Vertrauen zu verlieren, wenn sie eine Journalistin mitbringen. Die Kinderprostitution ist das offene Geheimnis der Nordstadt, ein Abgrund, der noch tiefer ist als all jene, in die sie hier ohnehin täglich schauen.
Maxi kennt die Szene gut, hat sich viele Jahre selbst prostituiert. Es begann damals mit dem Outing. Seine Mutter, erzählt Maxi, habe ihm gedroht, ihn rauszuschmeißen. Sie habe ihm verboten, in die Schule zu gehen. An manchen Tagen durfte er nichts essen. „Schwuchtel“ nannten ihn seine Geschwister.
Erst wurde er zum Außenseiter der Familie, dann ihre Einnahmequelle. „Meine Mutter hat gesehen, dass ich mich sehr feminin kleide und bewege“, sagt Maxi. „Da hatte sie die Idee: Sie kann mich einfach an ältere Männer verkaufen.“ Seine Mutter, die selbst als Prostituierte gearbeitet hatte, erklärte ihm, „wie man das macht“. Und versprach: „Wenn du uns Geld bringst, geben wir dir unsere Liebe.“
Dortmunder Mitternachtsmission betreut 50 minderjährige Prostituierte pro Jahr
Wie viele Kinder und Jugendliche regelmäßig zur Prostitution gezwungen werden, ist kaum zu schätzen. Die Mitternachtsmission ist für Prostituierte eine der wichtigsten Anlaufstellen in Dortmund, seit mehr als 100 Jahren. Allein sie betreut in der Stadt nach eigenen Angaben pro Jahr 50 minderjährige Prostituierte. Die Dunkelziffer von Kindern und Jugendlichen, die den Helfern nicht auffallen oder keinen Kontakt zu ihnen wollen, dürfte noch höher sein.
Dennoch landet kaum je ein Täter vor Gericht. Eine Statistik gibt es nicht. Aber dass ein Freier verurteilt wurde, daran können sie sich weder bei der Polizei noch bei der Staatsanwaltschaft oder bei den Gerichten in Dortmund erinnern. In den Archiven finden sich einige wenige Fälle, bei denen es um Kinderprostitution geht.
Bulgarin zwang 13-Jährige in Dortmund zur Prostitution
Im Jahr 2010 wurde eine 28-jährige Frau aus der Nordstadt wegen schweren Kindesmissbrauchs, Zuhälterei und schweren Menschenhandels verurteilt. In ihrer Heimat Bulgarien hatte sie Kontakt zu den Eltern ihres späteren Opfers geknüpft, einem damals 13-jährigen Mädchen. Sie versprach ihm eine vernünftige Schulausbildung, danach einen Job als Kellnerin.
Für das Kind, das in Armut aufgewachsen war, klang das Leben in Dortmund nach dem Paradies. Was kam, war die Hölle. Von Sommer bis Oktober 2007 zwang die Frau das Mädchen zur Prostitution, verkaufte seinen Körper an Männer. Widersetzte es sich ihren Forderungen, wurde es geschlagen.
Der Fall flog nur auf, weil ausgerechnet der Bruder der Angeklagten dem Mädchen zur Flucht verhalf. Zusammen mit einer anderen jungen Frau wollten sie in die Niederlande, bei der Grenzkontrolle wurde die Polizei auf die Drei aufmerksam.
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Im Jahr 2017 stand gleich ein Zuhälter-Trio vor Gericht. Über mehrere Jahre sollen die drei Männer junge Bulgarinnen gezwungen haben, in der Dortmunder Nordstadt und in Hamm auf den Straßenstrich zu gehen. Die Ermittlungen kamen nur in Gang, weil sich eine 2009 in die Prostitution gezwungene Frau nach Jahren bei der Polizei meldete. Als sie auf den Strich geschickt worden war, war sie 15 Jahre alt.
15-Jährige musste in Dortmund pro Tag fünf bis sechs Freier treffen
Im Jahr 2019 wurde eine Frau wegen Beihilfe zum Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und wegen Beihilfe zur Zuhälterei verurteilt. In ihrer Heimat Bulgarien hatte sie Kontakt zu einer Frau aufgenommen, die an Krebs erkrankt und in Geldnot geraten war. Die Verurteilte soll der Frau in einem Gespräch von „Frau zu Frau“, wie es im Urteil heißt, versprochen haben, ihrer Tochter Arbeit in Deutschland zu verschaffen. Sie sprach dabei von einer „normalen Arbeit“, etwa als Putzfrau oder in einer Kantine.
Für gerade mal 100 Euro kauften sie und ihr Ehemann der Mutter dann die 15-jährige Tochter ab, brachten sie wie versprochen 2006 nach Deutschland. Nur wartete hier kein gut bezahlter Job auf sie, sondern das Bordell. Die Frau – die von ihrem Ehemann selbst zur Prostitution gezwungen wurde – habe das Mädchen in verschiedene Praktiken eingewiesen. Der Mann, der ebenfalls verurteilt wurde, gab die Preise vor: 30 Euro für Sex, 20 Euro für Oralverkehr und 40 Euro, wenn es sich dabei anfassen ließ. Schon am ersten Abend sei das Mädchen acht Männern zugeführt worden. Fünf bis sechs Freier musste es von da an treffen, jeden Tag.
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Das Mädchen selbst war nach seinen eigenen Angaben völlig ahnungslos, als es in Bulgarien losfuhr. „Ich wusste nicht, was ich in Deutschland machen sollte. Ich bin nur mitgefahren, weil meine Mutter das gesagt hat“, sagte es damals den Richtern. Pass und Papiere wurden ihm abgenommen, von den Einnahmen durfte es nichts behalten. Als es von einem Freier schwanger wurde, verkaufte das Ehepaar das Mädchen an ihn – für 400 Euro. Alle Fälle haben eine Gemeinsamkeit: Verurteilt wurde nicht einmal einer der Männer, die sich an den Kindern vergingen.
Für viele Kunden gelte: je jünger, desto besser
Den ersten Kunden wird Maxi wohl nie vergessen. „Ich spüre immer noch seine Hände auf mir“, sagt Maxi. Nach fünf oder zehn Minuten war es vorbei. Da sagte der Mann: „Geh duschen!“ Unter der Dusche lief das Blut seine Beine und die Tränen seine Wangen hinunter.
Neben dem Mann im Wald gibt es noch zwei weitere Täter, deren Gesichter Maxi nicht aus dem Kopf gehen. „Ein Kunde hat mal gemerkt, dass etwas bei mir nicht okay ist“, erzählt Maxi. „Ich hatte blaue Flecken, war komisch. Wenn er mich küssen wollte, habe ich die Augen zugemacht.“ An den Dialog erinnert sich Maxi genau.
„Er meinte: ,Du willst das nicht, oder?‘ Ich sagte: ‚Nein.‘ Er war verwundert. Dann hat er mir gesagt: ,Soll ich dich nach Hause bringen? Ich gebe dir ein bisschen Geld, damit deine Mutter keinen Stress macht.‘ Was ich weiß: Der Kunde war Politiker.“ Maxi nimmt einen Schluck aus der Cola, guckt aus dem Fenster und fängt auf einmal an, laut zu lachen. „Ein anderes Mal hat ein Polizist mich genommen. Er wusste, dass ich es nicht will. Das fand er noch geiler.“
„Ein anderes Mal hat ein Polizist mich genommen. Er wusste, dass ich es nicht will. Das fand er noch geiler.“
Ob das, was Maxi uns erzählt, stimmt, können wir nicht überprüfen. Aber Sozialarbeiterinnen bestätigen uns die Eckpunkte der Lebensgeschichte und sagen, Maxi sei eines von vielen Beispielen. Sie kennen Schilderungen dieser Art aus vielen Fällen. Und oft seien die Jungen sogar noch jünger, wenn sie anfingen, sich zu prostituieren. Zwölf Jahre alt, 13 oder 14. Für viele Kunden gelte: je jünger, desto besser.
Wie viele Männer es insgesamt waren, von denen er missbraucht wurde, kann Maxi heute nicht mehr genau sagen. Manchmal seien es sechs, acht pro Woche gewesen. Sie alle seien sehr alt gewesen. Sie alle hätten viel Geld gehabt. Und sie alle hätten gezielt nach Kindern und Jugendlichen gesucht.
Für seine Familie, sagt Maxi, wurde er zu einem ganz großen Business. „Alle wussten es: Oma, Onkel, einfach alle. Sie fanden es toll, dass ich ihnen so viel Geld einbringe.“ Mehrere Hundert Euro hätten die Freier für ein Treffen bezahlt. „Alles ging an meine Mutter, jeder Cent. Sie hat sich davon in Rumänien ein Haus gebaut.
Viele der Opfer von Kinderprostitution stammen aus Roma-Familien
Viele der Opfer von Kinderprostitution stammen aus Roma-Familien. Aus Sicht von Sozialarbeitenden ist das kein Zufall. Den eigenen Körper zu verkaufen, das war seit Generationen und ist auch heute noch für viele Roma eine der wenigen Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Seit Jahrhunderten werden sie in Europa ausgegrenzt und diskriminiert, haben oft keinen Zugang zu Bildung oder zum Arbeitsmarkt.
In Bulgarien und Rumänien, wo die Roma jeweils rund ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, leben viele von ihnen in Slums am Rande der Gesellschaft. Es gibt keine Kanalisation, keine Heizung, selten Strom. Wer kann, arbeitet als Tagelöhner. Manche suchen ihr Glück als Erntehelfer oder Bettler im EU-Ausland.
Eine Sozialarbeiterin, die Prostituierten beim Ausstieg helfen will, hat die Roma-Slums in Bulgarien besucht. Sie erzählt von „Zuständen, die wir uns hier kaum vorstellen können.“ Vor Ort habe sie erfahren: „Eine Organisation hatte eine Umfrage in Auftrag gegeben. Dabei haben fast 80 Prozent der Roma-Mädchen und -Jungen angegeben, dass sie später mal als Prostituierte arbeiten wollen.“ Das Paradoxe: Sex ist für viele Roma ein großes Tabuthema. Kaum jemand spricht offen darüber.
Maxi erinnert sich noch gut daran, als seine Mutter ihn zum ersten Mal mitten in der Nacht aufweckte. Er musste mit ihr vor der Haustür auf den Kunden warten, einen deutschen Mann, weit über 60 Jahre alt. Maxi konnte damals kaum Deutsch, aber so viel verstand er: „Meine Mutter hat dem Typen gesagt: 800 Euro für ein paar Stunden mit mir. Dass ich ihr Sohn bin, hat sie nicht gesagt.“
Vermutlich hat Maxis Mutter seine Freier im Internet gefunden. Inzwischen verabreden sich die Freier noch häufiger direkt online zum Sex mit den Jugendlichen. Die Corona-Pandemie hat da einiges geändert. Das macht denen die Arbeit schwer, die den Kindern helfen wollen. Noch vor vier, fünf Jahren, da habe sie all die Orte gekannt, an denen die Jungen auf ihre Freier treffen, erzählt eine Sozialarbeiterin. Die mittlerweile geschlossene Schwulenbar „Zaubermaus“ sei so ein Treffpunkt gewesen, generell alles, was „Maus“ im Namen hatte. Aber auch der inoffizielle Straßenstrich beim Brauereimuseum.
Wir treffen die Sozialarbeiterin ganz in der Nähe. Seit vielen Jahren arbeitet sie in dem Bereich, nicht nur in Dortmund, sondern auch in einer anderen NRW-Stadt. Wo genau, das will sie öffentlich nicht verraten. Wie alle Sozialarbeitenden will sie anonym bleiben. Sie will ihre Arbeit nicht gefährden, indem sie Geldgeber wütend macht oder das Vertrauen der Familien verspielt, weil sie mit der Presse redet.
Sozialarbeiterin: „Wir wissen, wo es passiert, aber können es nicht stoppen“
Die Sozialarbeiterin zeigt uns eine Straße. Die Jungen, die sie betreut, hätten ihr erzählt, dass sie sich dort hinstellen, die Männer antanzen und sie dann zu ihnen ins Auto steigen würden, sagt sie. Wo sie sich hinstellen müssen, das wüssten die Kleineren von den Größeren, ihren Onkeln, teilweise von ihren eigenen Brüdern. „Sie werden von Älteren aus der Community angesprochen. Die sagen: Wenn du bei dem einsteigst und das und das machst, bekommst du 20 Euro“, erzählt die Sozialarbeiterin. „Viele Kleine haben das dann einfach gemacht. Sie wussten gar nicht genau, was sie erwartet.“
Sie selbst sei die Orte oft abgefahren, zu jeder Tages- und Nachtzeit, sagt die Sozialarbeiterin. Und obwohl sie lange den Eindruck hatte, dass jeder der Jungen, den sie betreut, mehr oder weniger betroffen ist, die Prostitution „erschreckend normal“ sei, habe sie keinen von ihnen je dabei gesehen. „Es ist einfach so frustrierend. Wir wissen, wo es passiert, aber können es nicht stoppen. Die Männer kommen einfach so davon.“
Als das Ordnungsamt eine Zeit lang vermehrt durch die Nordstadt gefahren sei, hätten sich die Männer Perücken aufgesetzt, damit es vom weitem aussah, als säßen die Jungen mit einer Frau im Auto. Und auch die Jungen selbst tun alles, um von den Behörden nicht erwischt zu werden. „Die Kinder sind kleine Füchse. Sie kennen jedes Zivilauto, sehen Streifenwagen auf zehn Kilometer Entfernung“, sagt die Sozialarbeiterin. „Die Kinder sind schneller weg, als jemand gucken kann.“
Dortmunds Sonderweg in der Prostitution
Kinderprostitution gibt es an vielen Orten in Deutschland. Große Probleme gebe es etwa in Hagen und Duisburg, auch in Berlin, erzählen Sozialarbeitende. Dortmund allerdings ist besonders beliebt bei Freiern. Um zu verstehen, warum so viele von ihnen auf der Suche nach Sex mit Kindern und Jugendlichen ausgerechnet hierhin kommen, muss man den Sonderweg der Stadt in der Prostitution betrachten: In Dortmund wollten sie nämlich vor einigen Jahren beweisen, dass das „älteste Gewerbe der Welt“ mittlerweile auch ein ganz normales sei.
Mithilfe der Stadt selbst wurde im Jahr 2000 ein Straßenstrich in der Ravensberger Straße eingerichtet, „hinter Hornbach“, hieß die Ecke in der Stadt und bei Freiern. Der Straßenstrich sollte die Prostitution für die Frauen sicherer machen und aus den Wohngebieten holen. 300 Meter war er lang, gut ausgeleuchtet. Der katholische Sozialdienst beriet die Frauen in Containerbüros, es gab sogar Arztsprechstunden. Besonders waren aber vor allem die 20 sogenannten Verrichtungsboxen. Die waren so konstruiert, dass der Fahrer die Autotür nicht mehr öffnen kann, die Prostituierte auf dem Beifahrersitz aber schon.
Lange galt das Dortmunder Modell als Erfolg in ganz Europa. Nach dem EU-Beitritt im Jahr 2007 kamen aber Hunderte Frauen aus Bulgarien und Rumänien, die meist von ihren Familien zur Prostitution gezwungen wurden. Die Nordstadt wurde nicht nur zum „Puff Europas“, sondern auch ein Anziehungspunkt für kriminelle Banden.
2011 erklärte die Stadt das Dortmunder Modell für gescheitert. Seitdem ist Straßenprostitution verboten, im gesamten Stadtgebiet. Es gibt nur eine Ausnahme der Sperrzone: die Linienstraße.
Linienstraße: 90 Prozent der Prostituierten kommen aus Rumänien oder Bulgarien
Ein Montagabend im Sommer. Dortmunds Bordellstraße liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs. Hinter einem rot leuchtenden Fenster steht eine Frau in BH und Jeans-Shorts. „Möchtest du eine Rose haben?“, fragt Vivien sie. Die Frau nickt. „Schokolade auch?“, fragt sie. „Nein, ich mache Diät“, sagt die Frau. Vor ihr hängt ein Schild. „15 Minuten – 30 Euro“, steht darauf geschrieben. „Das ist der Standardpreis, viele Freier drücken den noch auf 20 Euro“, sagt Vivien.
>>> Viviens Geschichte lesen Sie hier: Bochumerin: „Ich habe als Escort gearbeitet – und bereue es“
Die 28-Jährige aus Bochum hat selbst als Escort gearbeitet, heute will sie anderen Frauen beim Ausstieg helfen. Einmal im Monat geht sie mit anderen Aktivistinnen des Vereins „Sisters“ über die Linienstraße, spricht mit den Frauen, die hier in rund 16 Häusern Sex gegen Geld anbieten. Mittlerweile seien 80, vielleicht eher 90 Prozent der Frauen, die hier arbeiten, aus Rumänien oder Bulgarien, sagt Vivien.
Gerade läuft das Geschäft schlecht, klagen die Prostituierten. Um die 150 Euro Miete zahlen sie für ihre Zimmer, pro Tag. Das lohne sich oft nicht mehr, sagen die Frauen. An Hausnummer 22 bleibt Vivien wieder stehen. „Willst du eine Rose? Oder Schokolade? Komm, ich gebe dir was aus“, sagt sie. Die Frau beugt sich aus dem Fenster. „Wie alt bist du?“, fragt Vivien. „23“, antwortet sie. Sie sieht viel jünger aus.
„Hattest du schon mal einen anderen Job?“, fragt Vivien. „Nein. Immer nur das hier“, sagt die Frau im gebrochenen Deutsch. „Die Frauen sagen uns immer, dass sie Anfang 20 sind“, sagt Vivien beim Weitergehen. „Aber wir können das ja nicht kontrollieren.“ In den Häusern selbst würden sich weitere, meist sehr junge Frauen verstecken.
Während in den Bordellen, Sauna-Clubs und anderen Einrichtungen vor allem Mädchen und junge Frauen aus Rumänien und Bulgarien sexuell ausgebeutet werden, sind es auf den Straßen der Nordstadt die Jungen, die ihren Körper verkaufen.
„Ich war ein Kind, ich hatte Angst“
Maxi ist dann irgendwann von zuhause weggelaufen. Vier Monate lang traf er im Auftrag seiner Mutter Männer, wurde immer und immer wieder vergewaltigt. Bis er eines Nachts entschied, dass es so nicht weitergehen konnte. „Ich bin von zuhause abgehauen, durchs Fenster. Ich bin um mein Leben gerannt“, erinnert sich Maxi. Er ist so weit gelaufen, dass er irgendwann auf der Autobahn landete. „Da war eine ältere polnische Dame. Sie konnte kein Deutsch. Ich habe zu ihr nur gesagt: ,Police, Police!‘“
Von der Polizeiwache ging es erst einmal ins Krankenhaus. Die „Wunde vom Kunden“, wie Maxi es nennt, musste genäht werden. Dann erzählte er den Beamten alles. Anzeige erstattete er nicht. „Ich war ein Kind, ich hatte Angst“, sagt Maxi heute.
Von seiner Mutter kam Maxi damals los, nicht aber von der Prostitution. Maxi arbeitete auf eigene Rechnung weiter, ging auf den inoffiziellen Dortmunder Straßenstrich. „Bei Kaufland“, sagen sie in der Szene. Er liegt nur eine Kreuzung entfernt vom ehemaligen Straßenstrich „hinter Hornbach“.
„Einmal war da ein Typ, ich habe zu ihm gesagt: ,Lass ihn in Ruhe, er ist noch ein Kind!‘ Da hat der Typ nur gesagt: ,Das finde ich doch geil.‘“
Mit damals 16 Jahren war Maxi älter als all die anderen Minderjährigen. „Einmal habe ich einen Jungen kennengelernt, der gerade 14 Jahre alt geworden war“, sagt Maxi. „Er kam geschminkt zu Kaufland und meinte: ,Ich will Geld verdienen, damit ich von zuhause loskomme.‘ Ich habe gefragt, warum er das will. Da meinte er: ,Mein Papa ist Alkoholiker. Wir haben kein Geld.‘ Ich habe ihm dann erzählt, dass er zum Jugendamt kann, dass ich auch von zuhause weggelaufen bin.“
Maxi beobachtete die Freier. Wie sie versuchten, die Jungen mit Schokolade oder Kaffee anzulocken. Wie sie die Jungen fotografierten, manchmal stundenlang vor Ort herumlungerten. „Einmal war da ein Typ, ich habe zu ihm gesagt: ,Lass ihn in Ruhe, er ist noch ein Kind!‘ Da hat der Typ nur gesagt: ,Das finde ich doch geil.‘“
Maxi beobachtete auch das Ordnungsamt und die Polizei. „Die Polizei kontrolliert da eigentlich jeden Tag“, sagt Maxi. „Aber sie entdecken nichts.“ Die Jungen hätten T-Shirts und Jeans getragen, völlig unauffällig – und sich hinter den parkenden Autos oder im Gebüsch versteckt, wenn mal wieder eine Polizeistreife vorbeifuhr. Und wenn sie dann doch mal angesprochen wurden von der Polizei? „Dann sagen die: ,Was willst du von mir, nur, weil ich hier sitze? Ich wohne um die Ecke. Lass mich in Ruhe.‘“
„Eine Schande, mit der ich nicht mehr leben kann“
Es ist ein Versteckspiel, das Polizei und Ordnungsamt bisher meist verloren haben. Die Polizei sagt, Kinder- und Jugendprostitution mache nur etwa ein Prozent all ihrer Fälle aus. Weil es fast nie zu Anzeigen kommt, können die Behörden nicht aktiv werden. Und weil Täter und Kinder sich auf den Straßen oder im Internet verstecken, tappen die Ermittler – trotz der Kontrollen in der Nordstadt – im Dunkeln.
Nur dieses eine Mal hatte die Polizei Erfolg, als zwei Anwohner halfen. Sie beobachteten, wie ein Mann mit einem Jungen im Gebüsch verschwand – und riefen die Polizei. Die konnte den Jungen und den Mann noch vor Ort abfangen. Beide stritten die Vorwürfe ab. Bei dem Jungen fanden die Beamtinnen und Beamten 20 Euro, im Gebüsch ein benutztes Taschentuch.
Der Mann behauptete vor Ort, er habe den Jungen nur nach Hause fahren wollen. Zu einem Verhör mit dem Mann kam es nie, wenige Tage nach dem Vorfall nahm er sich das Leben. In seinem Abschiedsbrief erklärte er, dass er seine Neigungen nicht mehr habe unterdrücken können. „Und das ist eine Schande, mit der ich nicht mehr leben kann“, schrieb er. Es sei nicht das erste Mal, dass er Sex mit einem Minderjährigen hatte. „Der Rumäne ist ein Junge, der sich für Taschengeld anbietet, und zu eben solchen Jungs (wenn auch 16, 17) habe ich in den letzten Wochen schon Kontakt aufgenommen.“
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Der Junge, damals 12 Jahre alt, sagte später im Verhör, er kenne den Mann von früher, der habe ihn nur nach Hause fahren wollen. Als der Polizist ihn fragte, ob der Mann ihn irgendwo am Körper anfassen wollte, antwortete der Junge nicht. Im Vernehmungsprotokoll notierte der Beamte: „Schüttelt den Kopf (hat Tränen in den Augen).“ Im Bericht heißt es aber auch: „Die Geschehnisse schienen ihn nicht im Geringsten zu belasten“ und „Er verhielt sich keinesfalls altersgerecht“.
Da die Polizisten seine Eltern nicht erreichen konnten, wurde der Junge in einem Heim untergebracht. Doch schon wenige Tage später flüchtete er, die Polizei fand ihn schließlich zuhause bei seiner Mutter wieder. Das Haus, so vermerkten es die Polizisten, sei völlig verdreckt. „Überall konnte Kot und Urin festgestellt werden.“ Die Mutter konnte kein Deutsch. Weder sie noch ihr Sohn waren interessiert daran, den Vorfall anzuzeigen. So blieb den Beamten nur die Anzeige gegen Unbekannt. Sie vermuteten, dass der Junge sich nicht zum ersten Mal prostituiert hatte.
„Wie kaputt muss eine Mama sein, wenn sie das für ihr Kind zulässt?“
Wie kann eine Mutter nichts tun, wenn ihr Kind missbraucht wird? Wieso erstattet sie keine Anzeige, schaut einfach weg? Oder wie es ein Sozialarbeiter formuliert: „Wie kaputt muss eine Mama sein, wenn sie das für ihr Kind zulässt?“
Der Sozialarbeiter möchte anonym bleiben, deshalb geben wir ihm einen anderen Namen: Thomas Franke. Er hat eigentlich in einem ganz anderen Bereich gearbeitet, in einer ganz anderen Region Deutschlands. Aber das Jobangebot aus Dortmund habe ihn gereizt, sagt er. Über Jahre hat er sich einen Zugang zur Roma-Community aufgebaut. Mittlerweile ist er so vertraut mit vielen Familien, dass zwei bereits ihre Söhne nach ihm benannt haben.
Schon etliche Jungen hätten sich ihm anvertraut, sagt Franke. Er habe mit ihnen gespielt, gekocht. Und nach und nach hätten sie ihm erzählt, womit sie sich etwas dazu verdienen. Manche hätten ihm sogar Fotos und Videos gezeigt, auf denen zu sehen sei, wie ihre Freunde oder Cousins zu alten Männern ins Auto steigen.
Als Sozialarbeiter, sagt Franke, sei die Situation sehr schwer zu ertragen. „Ein Kind sagt mir: Das und das ist los. Aber bitte, bitte verrat es keinem. Was mache ich denn jetzt? Ich will es ja erzählen. Aber wenn ich den Fall zur Anzeige bringe, würde ich das Vertrauen verspielen. Das ist eine große Last.“
Der Staat als Problemverursacher, nicht als Problemlöser
Viele Roma haben über viele Generationen gelernt, dass sie nur der eigenen Community vertrauen können, nicht den Behörden. Sie haben oft nur negative Erfahrungen mit Polizei, Jugendamt & Co. gemacht. Den Staat sehen sie als Problemverursacher, nicht als Problemlöser.
Was Sozialarbeitende frustriert: Die Prostitution vererbt sich von Generation zu Generation, weil es für viele keinen Ausweg zu geben scheint. Viele der missbrauchten Kinder seien spätestens als Jugendliche oder junge Erwachsene so kaputt, dass sie Drogen nehmen, sagt Franke. Um sich den Konsum leisten zu können, würden sie kriminell, sich weiter prostituieren – oder als Zuhälter Jüngere in die Prostitution drängen. „Und dann sind sie in den Augen der Gesellschaft nicht mehr die missbrauchten Kinderseelen, sondern die asozialen, kriminellen Roma.“
Prostitution ist sowieso schon ein Tabuthema. Und eine Community mit einer hochrigiden Sexualmoral kann darüber erst recht nicht reden. „Aber ich bin nicht schwul“, das hätten alle Kinder immer sofort klargestellt, wenn sie ihm von dem Missbrauch erzählt hätten, sagt Franke. Auch bei den Eltern sei die erste Reaktion oft nicht: „Hilfe, mein Kind wurde missbraucht!“ Sondern: „Hilfe, ist mein Kind schwul?“
Für den Sozialarbeiter ist trotzdem die einzige Möglichkeit, den Missbrauch aufzuklären, mit den Eltern darüber zu sprechen. Sie zu überzeugen, eine Anzeige zu stellen. Erfolgreich war er damit bisher kein einziges Mal.
Maxi bereitet eine Anzeige vor – gegen ihre Mutter
Damit Kinderprostitution nicht länger ein Geheimnis bleibt, braucht es Menschen wie Maxi, die ihre Geschichte teilen. Maxi will endlich sein, wer sie wirklich ist: eine Frau. Dass sie im falschen Körper geboren wurde, weiß Maxi, seit sie sechs Jahre alt ist, sagt sie. Doch erst, seitdem sie sich von ihrer Familie gelöst hat, kann sie offen zu sich stehen. Deshalb schreiben wir von jetzt an, wenn wir über Maxi reden, auch „sie“ statt „er“.
Bei unserem Treffen trägt die 20-Jährige eine schwarze Leggins, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Sportjacke. Dazu eine Handtasche aus Jeansstoff mit glitzernden Steinchen. Maxi lebt mittlerweile in einer Wohnung, die ihr vom Jugendamt gestellt wird. Mehrere Sozialarbeiterinnen betreuen sie eng. Freunde habe sie keine, sagt sie. „Will ich auch eigentlich nicht. Ich will sie nicht zu nah an mich ranlassen, das mag ich nicht.“
Maxi kämpft gegen Depressionen, hat drei Selbstmordversuche hinter sich. Gerade mache sie „eine Pause“ von der Prostitution, sagt sie. „Es tut mir nicht gut.“ Ob sie sich vorstellen kann, irgendwann ganz damit aufzuhören? „Ich weiß es nicht. Wenn ich einen Scheich von Dubai heirate, dann ist das Leben vielleicht besser.“ Sie lacht. Etwas zu laut, etwas zu lang.
Zwei Dinge geben ihr Hoffnung, sagt sie zum Abschied. Sie steht auf der Warteliste, damit auch ihr Körper zu dem einer Frau wird. Und gemeinsam mit der Sozialarbeiterin bereitet sie eine Anzeige vor. Gegen ihre Mutter.