Essen/Dortmund. Der Krimi, der die Geschichte des Sees erzählt, ist draußen: Eine junge Frau mit Tochter auf der Flucht erreicht das rettende Ufer.
Selbst da, wo die Landschaft im Ruhrgebiet nach Natur aussieht, ist von Menschenhand gestaltet. Was nördlich der Ruhr wie Gebirgshügel anmutet, sind Abraumhalden mit Gesteinen aus Hunderten Metern Tiefe und Schlackeresten. Und was an der Ruhr wie eine Perlenkette idyllischer Tal-Seen wirkt, wurde künstlich aufgestaut, zunächst zur Wasserversorgung von Industrie und Mensch, dann aber auch als Wassersportanlage und flüssig-gewellter Freizeitpark.
Und auf die Idee, ein ehemaliges Stahlwerksgelände unter Wasser zu versenken, könnte das Ruhrgebiet sogar ein Copyright beantragen. Das Stahl(verarbeitungs)werk Phoenix-Ost war überflüssig, nachdem man die stillgelegten Hochöfen von Phoenix-West nach China verkauft hatte (wo sie heute in Jinfeng im Mündungsdelta des Yangtse qualmen und aus der unbedeutenden Stahl-Klitsche Jiangsu Shagang einen Weltkonzern gemacht haben). Aus Phoenix-Ost wurde mit der freundlichen Hilfe von 672.000 Kubikmetern Wasser ein Vorzeigeprojekt des Strukturwandels, der viel öfter beschworenen wird als dass er gelingt.
Ihre Heldin Maria Grappa ließ Gabriella Wollenhaupt zum letzten Mal 2020 ermitteln
Die Frühgeschichte dieses Projekts für fortgeschrittenen Land- und Gesellschaftsbau erzählt auf unterhaltsame Weise der neue Krimi von Gabriella Wollenhaupt. Nachdem sie sich von ihrer langjährigen Ermittlerin, der Zeitungsreporterin Maria Grappa (1993-2020) aus Gründen des Medienwandels und der zunehmenden Rentennähe verabschiedet hat, ist nun bereits der dritte Krimi mit wechselnden Figuren und Schauplätzen erschienen: „Die Toten vom Phoenix-See“.
Wunderwelt Ozean bei Phoenix des Lumières in Dortmund
Marie, eine junge Frau mit Tochter, ist vor irgendwem auf der Flucht, sie finden 2003 Asyl in einem Campingwagen: dort, wo künftig das Ufer des Phoenix-Sees sein wird. Noch ist hier alles Baustelle, und die örtliche Kaschemme kann eine neue Stangentänzerin gut gebrauchen. Maries Vorgängerin wird irgendwann tot aufgefunden, später gräbt man eine weitere Frauenleiche aus. Die Kaschemme schließt, Marie und ihre Tochter Olga kommen bei einer verdeckten Ermittlerin unter. Doch die Ermittlungen werden sich immer mehr um sexualisierte Gewalt gegen Kinder unter den Talaren der Kirche drehen.
Mit den „Toten vom Phoenix-See“: zeichnet Gabriella Wollenhaupt ein differenziertes Bild der Gentrifizierung
Lesenswert ist allein schon die Geschichte des Phoenix-Sees, wie sie dieser Roman erzählt: Den häufiger zu hörenden Klagen über die Gentrifizierung von Hörde kommt hier auch die gelungene Aufwertung eines Stadtteils differenziert zur Sprache. Alles andere als blauäugig oder rosa bebrillt, dafür aber mit ironischem Blick auf das moderne Märchen, dem zufolge die Fische im Phoenix-See leuchten, wegen des besonderen Schadstoff-Cocktails im Untergrund. Unnachsichtig aber geht die Erzählstimme mit den „Popen“ um, die sich nicht nur die Erde, sondern besonders die Kinder untertan gemacht haben. Zu vergeben, sagt irgendwer in diesem Buch einmal, sei eine besonders gute Form der Rache. Aber es muss ja nicht alles gerächt werden. Gerecht schon eher.