Duisburg. Ausstellung im Lehmbruck Museum zum 60-Jährigen des Hauses: „Courage“ zeigt seine Kunst und die von Zeitgenossen. Samt einer Ikone.

Mut, da liegt die neue Ausstellung im Duisburger Lehmbruck Museum ganz richtig, ist das wichtigste künstlerische Werkzeug, egal ob jemand mit Pinsel, Meißel oder Tuschfeder arbeitet. Ohne die Courage, zu neuen Ufern aufzubrechen, sähe unsere Kunst immer noch so aus wie in den Steinzeit-Höhlen von Lascaux und Altamira. Die war atemstillstandsfördernd schön – aber es gäbe bis heute nur sie und nicht die unendliche Vielfalt an Kunst, die unsere Zivilisation mindestens genauso auszeichnet wie es Wissenschaft und Technik tun.

Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) war auch einer, der mutig voranschritt im Entwickeln seiner Kunst. Der Bergmannssohn aus Meiderich, dessen Talent früh erkannt und gefördert worden war, ging nach der Volksschule erst zur Kunstgewerbeschule in Düsseldorf und absolvierte dann ab 1901 eine Bildhauer-Ausbildung an der dortigen Akademie – die als extrem konservativ, konventionell, ja akademisch im schlechtesten Sinne verschrien war.

Beeindruckende Werke von Auguste Rodin im Lehmbruck-Museum

Lehmbruck aber suchte sich als Vorbild den fortschrittlichsten, ja mutigsten Bildhauer seiner Zeit: Auguste Rodin. Der ist heute auch für seinen ausbeuterischen, unterdrückerischen Umgang mit weiblichen Talenten wie Camille Claudel berüchtigt. Und galt Zeitgenossen als schrecklicher Regelbrecher. Vor allem mit einem überaus demokratischen Denkmal, den legendären „Bürgern von Calais“: Ein Denkmal für jene sechs Bürger, die sich im Hundertjährigen Krieg des Mittelalters für ihre Stadt opferten und sich als Geiseln dem Belagerungsheer der Engländer auslieferten, im sicheren Glauben, sie würden hingerichtet.

Mut bewies aber auch Rodin mit seinem Denkmal: Nicht ein Held, sondern eine Gruppe von Bürgern steht da im Hemd, ansonsten nur bekleidet mit Angst, Sorge, Gram. Und: Er wollte sie so, wie sie heute vor dem Rathaus von Calais und in Abgüssen in elf Weltstädten von London über Kopenhagen und Washington bis Seoul und Tokio stehen – ebenerdig, nicht auf einem Sockel, sondern auf Augenhöhe mit denen, die sie aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten können.

Lehmbrucks „Denker“ und ein Selbstbildnis von Egon Schiele: überraschend ähnlich

In Duisburg ist Rodin der erste von fast zwei Dutzend Künstlerinnen und Künstler, die hier den Werken ihres Zeitgenossen Lehmbruck begegnen. Da sind drei Calais-Bürger in kleinen Bronze-Studien, weitere als Foto an der Wand. Aber am mutigsten ist jener „Monumentale Kopf“ des Pierre de Wissant aus dem Kunstmuseum Basel, bei dem aus den Gesichtszügen unendlich viel, kaum auszuhaltendes Leid, aber auch Leidensbereitschaft spricht. Spektakuläre Schönheit eigenen Rechts.

Lehmbruck, der mutige Künstler
Lehmbrucks „Kniende“ vor Werken von Auguste Rodin. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Über Rodin diskutierte seine Zeit trotz seines großen Renommeés. Über den mutigen Lehmbruck schimpft man in Deutschland. Wegen seines unheldischen „Gestürzten“ etwa. Lehmbruck findet nach intensivem Kontakt mit Rodin ab 1910 mehr und mehr zu seinem Stil der überlängten, nicht mehr auf Realismus, sondern auf genauen, vielsagenden Ausdruck hin modellierten Skulpturen und Plastiken. Und wie ungemein gut passt Lehmbrucks geneigter Kopf seines „Denkers“ (1918) voller Grübelei, Selbstbesinnung und Zweifel zu Egon Schieles „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ (1915)! Zu sehen auch: Eine der wenigen Holzskulpturen Schieles, ebenfalls ein Selbstporträt.

Auch interessant

Ein weiterer Coup der Lehmbruck-Chefin Söke Dinkla als Ausstellungsmacherin: Die skurrilen, tauschönen Marionetten der Dada-Künstlerin Sophie Täuber-Arp. „Die Dadaisten sahen sie als Skulpturen, nicht so sehr als Marionetten“, schildert Dinkla. Lehmbruck zog 1916 mit seiner Familie nach Zürich, wo sich in der Gemeinde der Exil-Deutschen die Dada-Bewegung gründete. Die Bürgerschreck-Kunstwerke sind hier um zwei schmerzhaft wirkende Mädchenbüsten ergänzt, die Lehmbruck ausgerechnet in Höhe der Brustwarzen vom Torso abtrennte. Wohl eher aus statischen Gründen, aber mit einschneidender Wirkung.

Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Oskar Schlemmer - und eine Entdeckung: Alice Lex-Nerlinger

Es gibt logische Paarungen wie die von Lehmbrucks „Gestürztem“ als Weltkriegs-Kommentar mit Käthe Kollwitz und Ernst Barlach (sowie – eine echte Enteckung: Fotogrammen und Collagen von Alice Lex-Nerlinger) und überraschend stimmige wie die mit Oskar Schlemmer. Gleich am Eingang zur Ausstellung warten allerdings auch Werke, die doch kühner waren als die von Lehmbruck. Drei Gemälde Lyonel Feiningers von höchster Qualität, drei ins abstrakte übergehende Skulpturen des Lehmbruck-Bekannten Alexander Archipenko und eine Ikone des italienischen Futurismus: Die meterhohe Bronze des Umberto Boccioni, die auch auf den italienischen 20-Cent-Münzen abgebildet ist: „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ (1913), eine wilde Skulptur aus wehenden Formen, in der ein heftig voranschreitender Mensch noch gut zu erkennen ist.

Auch interessant

Ebenfalls ein Schlüsselwerk der Moderne, allerdings mit tragischem Beigeschmack: Das fünf Meter hohe Modell eines Tatlin-Turms, der mit der geplanten Höhe von über 400 Metern ein Monument des Fortschritts und der zunehmenden Gerechtigkeit im Kommunismus werden sollte. Daraus ist ja nun ebensowenig geworden wie aus dem Tatlin-Turm.

Zum 60. Jahrestag der Eröffnung im Lehmbruck Museum

Mutig war auch der Entschluss der Stadt Duisburg, als Lehmbruck-Museum den Entwurf seines Sohnes mit dem vielen Glas und Beton zu bauen. 1964 wurde es eingeweiht, die Ausstellung würdigt auch den 60. Jahrestag dieses Ereignisses.

„Courage. Lehmbruck und die Avantgarde“. Lehmbruck Museum Duisburg, Friedrich-Wilhelm-Straße 40. Die Ausstellung wird heute Nachmittag eröffnet, es sprechen unter anderem Schirmfrau Bärbel Bas (SPD, Bundestagspräsidentin) sowie NRW-Kulturministerin Ina Brandes. Die Ausstellung läuft bis zum 6. Oktober, ein Katalog erscheint noch (ca. 176 S., 30 €). Geöffnet: Di-Fr 12-17 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr. Eintritt: 9, erm. 5 €; Familien 15 €