Dortmund. Die schräge Überschreibung des Klassikers durch Julienne De Muirier verschenkt das Potenzial des Originals: Ein Reinfall.
Unter den Theatermachern der jüngeren Generation grassiert seit geraumer Zeit ein Virus, gegen das noch kein Impfstoff erfunden wurde: die Überschreibung. Klassiker der Theaterliteratur werden nicht mehr nach dem Originaltext gespielt, sie werden „überschrieben“. Das heißt: Aufstrebende Autoren pflücken sich einzelne Motive und Handlungsstränge aus den übergroßen Vorlagen heraus und drehen daraus – mal mutig, mal selbstverliebt – ihr ganz eigenes Ding. Beworben wird dies natürlich noch immer mit dem Originaltitel, das zieht Publikum. Nicht selten aber ist dies eine dreiste Form von Etikettenschwindel.
Kein Vergleich zum „Ring des Nibelungen“ am Dortmunder Schauspiel
Am Schauspiel Dortmund hat man an dieser Modewelle offenbar besonderen Spaß gefunden. Hier wird überschrieben, was das Zeug hält. Das funktioniert mal überraschend gut (wie zuletzt beim tapfer gestemmten „Ring des Nibelungen“), mal geht es gründlich schief wie bei „Ein Volksfeind“, sehr frei nach Henrik Ibsen und bis fast zur Unkenntlichkeit bearbeitet von der Dramatikerin Julienne De Muirier.
Wir erinnern uns: In seinem 1883 uraufgeführten Drama erzählt Ibsen die Geschichte eines Kurbades, das einer hochverschuldeten Kleinstadt zu neuer Blüte verhelfen soll. Dann aber macht der Arzt des Bades die Entdeckung, dass das vermeintliche Heilwasser verseucht ist, auch das Trinkwasser des Ortes ist betroffen. Doch die Stadtoberen wollen den Umweltskandal vertuschen, sie erklären den Arzt zum „Volksfeind“.
Eigentlich ist dies ein schönes, zeitlos aktuelles Stück über Egoismus, Profitgier und Umweltskandale, das beinahe ideale Steilvorlagen zur Klimakrise bietet und womöglich deshalb gerade wieder häufiger auf den Spielplänen auftaucht. Doch was macht Julienne De Muirier daraus? Wenig. Sie streicht sämtliche (!) Figuren des Originals und gibt dafür jener schweigenden Mehrheit eine Stimme, die im Kurbad ihren Dienst verrichtet: den Bademeistern.
„Ein Volksfeind“ in Dortmund: Regisseurin Babett Grube lässt die roten Bakterien tanzen
Zum Italo-Schlager „Felicita“ von Al Bano und Romina Power beobachtet man sie dabei, wie sie mit Handtüchern wedeln, den Mango-Minze-Aufguss in die Sauna kippen und riesige Haarbüschel aus dem Abfluss ziehen. Zwischendurch zoffen sie sich mächtig, erzählen plötzlich von Permafrost und Atomkrieg und warten frei nach „Godot“ auf eine Busgruppe aus Hattingen, die dann doch nicht vorbeikommt.
Mit der Verseuchung des Wassers wird die Situation etwas brenzlig. Regisseurin Babett Grube lässt hier rote Bakterien in Form von niedlichen Plüschtieren über die Bühne tanzen und tut auch sonst einiges dafür, um der schrägen Stückverwandlung halbwegs unterhaltsame Noten abzuringen. Die Darsteller bleiben blass, was angesichts der drögen Figuren, die sie spielen sollen, auch kein Wunder ist. Nur Antje Prust und Nika Mišković erreichen Stadttheater-Niveau. Immerhin hat Lan Anh Pamh ein sehenswertes Bühnenbild gebaut, dessen bewegliche Platten immer wieder neue Räume bilden.
Was nach nur einer Stunde Spieldauer bleibt, ist ein schaler Nachgeschmack. Ob Henrik Ibsen sich am Premierenabend in seinem Osloer Grab herumgedreht hat, ist nicht bekannt. Fest steht nur, dass es etwas mehr Respekt vor dem Original braucht, um aus einer Überschreibung einen klug zugespitzten Theaterabend zu machen.
Der Premierenbeifall hielt sich in Grenzen.