Essen. Lina Atfahs Gedichte überzeugten die Jury: Der Literaturpreis Ruhr geht an die syrische Poetin aus Wanne, Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi.
Der Literaturpreis Ruhr geht 2023 zum ersten Mal seit seinem Bestehen 1986 an drei Menschen: Die syrische Lyrikerin Lina Atfah hat die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung am Donnerstagabend in der Essener Kreuzeskirche für ihren Gedichtband „Grabtuch aus Schmetterlingen“ verliehen bekommen – und mit ihr die Kölner Lyrikerin und Übersetzerin Brigitte Oleschinski und Lina Atfahs Ehemann Osman Yousufi, die beide an der Übertragung der Verse ins Deutsche mitgearbeitet haben. Und noch eine Premiere: Erstmals wird mit dem Preis ein Werk ausgezeichnet, das
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Die Jury lobte, Lina Atfah erschaffe mit ihren Gedichten eine Welt, die konkret und sinnlich, dabei gleichzeitig universell und doppelbödig sei: „Witz, Kampfeslust, zarte Stille, schier unfassbares Leid und naive Weltverliebtheit – bei der Lektüre wird einem die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen geschenkt. Hier schafft es Eine, die tief denkt und fühlt, über Unsagbares zu sprechen. Ermöglicht hat dieses herausragende Leseerlebnis für deutschsprachige Leserinnen und Leser die kongeniale Übersetzungsarbeit von Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi.“ Jury-Mitglied Murat Kayı sagte in der Laudatio, die Gedichte von Lina Atfah wirkten „wie eine besonders schöne Form der Hypnose“.
Förderpreis für die Dortmunder Autorin Julienne De Muirier
Der ebenfalls alljährlich vergebene Förderpreis ging an die Dortmunder Autorin Julienne De Muirier für die Erzählung „Nachtfahrt“, die sie auf der Internet-Seite „Wortmeldungen“ der Frankfurter Crespo Foundation veröffentlicht hat, die Kultur und Bildung unterstützt. Die „Nachtfahrt“ der „profunden Storytellerin“ (so die Jury) erzählt von einer jungen Frau im Ringen um ihre Identität, die aus ihrem heimischen Viertel, das für sie Heimat und Gefängnis zugleich ist, in eine Großstadt aufbricht, um sich die „Pille danach“ zu besorgen – und diese Nacht als eine Nacht der Entscheidungen, der Klarheit über ihr Leben und der bewussten Ichwerdung nach einer Flucht vor sich selbst erfährt. Zugleich wird die Spaltung einer Stadt in Viertel, die Spaltung einer Gesellschaft in soziale Bezirke deutlich. Der Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr ist mit 5000 Euro dotiert. Die in Köln geborene Julienne De Muirier lebt seit ihrem Studium der Angewandten Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dortmund in der Revierstadt und schreibt Texte fürs (dortige) Theater und den Film.
Ehrenpreis an Fatma Uzun und Semra Uzun-Önder
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Der undotierte Ehrenpreis ging an das Festival „Literaturdistrikt“ (früher: „Literatürk“) in Essen und wurde von dessen Gründerinnen und Macherinnen Fatma Uzun und Semra Uzun-Önder entgegengenommen. Die beiden Schwester betreiben das Festival seit mittlerweile 18 Jahren und haben bereits 2005, „als unsere Literatur noch als Gastarbeiterliteratur bezeichnet wurde“, ein Festival für eine Einwanderungsgesellschaft aufzuziehen, wie Mithu Sanyal, die Trägerin des Literaturpreises Ruhr 2021 in ihrer Laudatio voller Verve und Empathie betonte: „Autor:innen wie wir haben mit dem Racial-Imposter-Syndrom zu kämpfen, mit dem Gefühl, dass wir unseren Platz in der Literaturwelt nur türken. Mit der Frage, ob unsere Geschichten es überhaupt wert sind erzählt und gehört zu werden. Nicht so auf dem Literatürk Festival, das heute Literaturdistrikt heißt.“
Auch NRW-Kulturministerin Ina Brandes (CDU), die sich auch als ehemalige Verkehrsministerin des Landes von ihrer Verspätung durch einen Stau nicht beeindrucken ließ, erzählte aus einer gerade absolvierten Jurysitzung zum Kunstpreis NRW, der alljährlich mit einer Dotierung von 25.000 Euro (und Förderpreisen über 15.000 Euro) verliehen wird. Dort habe man über auffällig viele Kandidaten aus dem Revier diskutiert: „Dass das Ruhrgebiet die Herzkammer von Nordrhein-Westfalen ist, wird auch in seiner sehr besonderen Literatur bemerkbar. Ich lese sie gern, auch wegen der Ruhrgebietsromantik, die gelegentlich darin vorkommt, und auch wegen des Tonfalls, der so besonders ist.“
Ursprünglich waren 50 Bücher für den Hauptpreis nominiert
Karola Geiß-Netthöfel, Regionaldirektorin des Regionalverbands Ruhr, der den Preis gemeinsam mit dem Literaturbüro Ruhr vergibt, stellte heraus, das der Preis zeige „wie viel hochklassige, vielfältige Literatur im Ruhrgebiet und über das Ruhrgebiet entsteht. Allein 50 Titel für den Hauptpreis und 29 gültige Bewerbungen für den Förderpreis belegen: Unsere Region ist schreibens- und lesenswert!“
Der Jury für den Hauptpreis gehörten an: Cathrin Brackmann, Moderatorin und Literaturexpertin bei WDR 4, Murat Kayı, freier Autor, Musiker, Kabarettist, Patrick Musial, Betreiber der ehemaligen Buchhandlung Musial, Recklinghausen, Germanistik-Professorin Dr. Alexandra Pontzen von der Universität Essen-Duisburg sowie der RVR-Ausschuss für Kultur, Sport und Vielfalt.