Essen. In den USA wird er gefeiert, jetzt ist Tess Guntys Debüt-Roman „The Rabbit Hutch“ auch auf deutsch erschienen. Er entführt in einen Wohnblock.
So was passiert nicht alle Tage. Eine knapp dreißig Jahre junge Romanautorin bekommt für ihr Debüt gleich vier anerkannte amerikanische Literaturpreise und dazu noch weitere Nominierungen. Seit Philip Roth 1960 war sie im letzten Jahr die jüngste Ausgezeichnete beim National Book Award. Die Kritiker großer Zeitungen beteiligten sich am Lob. Der des Guardian dachte „an einen erstklassigen David Foster Wallace“. „Spektakulär“, „faszinierend“, „kraftvoll“, „brutal“, „fesselnd“. Zeitnah erscheinen nun sieben Übersetzungen von Tess Guntys „The Rabbit Hutch“, darunter die sehr gekonnte deutsche von Sophie Zeitz.
Der titelgebende Kaninchenstall ist ein mit Sozialwohnungen gefüllter Block im Städtchen Vacca Vale (Indiana), wo 1943 die Pleite der ansässigen und auch fiktiven Auto-Edelmarke „Zorn“ für viele den Abstieg eingeleitet hat. Angeschlagene Leben taumeln und granteln seither durch den Ort, der schon deutlich bessere Zeiten gesehen hat. Das einzig Schöne am postindustriellen Kaff ist das 200 Hektar große Chastity Valley, das 1918 während der Pandemie als Erholungsort geschaffen wurde.
Heute beherrschen dort Frisbeescheiben, Picknickdecken und Drohnen die Szenerie, die ein Stadtplaner aus New York, der Bürgermeister und ein Bauunternehmer mit ihrem Revitalisierungsplan wiederauferstehen lassen wollen. Der Startschuss fällt mit einem festlichen Baumfällen für die neue Siedlung, wogegen Ökoterroristen Kunstblut und Voodoopuppen einsetzen. So stehen sich die Extreme gegenüber, während ringsum sonst alle „in ihre Displays stieren, alle hoffnungslos süchtig nach dem blauen Licht.“
Tess Gunty beschreibt eine spröde neue Welt
In diese spröde neue Welt implantiert Tess Gunty ihre 18-jährige Tiffany als so etwas wie eine Hauptfigur. Mal erzählt sie selbst, mal wird über sie geredet, dann wieder geht es um die sie umgebende Welt, für deren Schilderung die Autorin nicht nur die Textsorten wechselt, sondern auch Illustrationen ihres Bruders einbezieht. Erst hatte Tiffany eine süchtige Mutter, dann erschöpfte Pflegeeltern in der Schuldenfalle, dann wirkte die Alienhafte – Haut und Haare weiß – auf die drei Jungs in ihrer Kaninchenstall-WG „schön, aber auf eine unheimliche Art“. Das wird schlimme Folgen haben, denn ihre der Mühle des Jugendamts entgangenen Mitbewohner haben seltsame Phobien und Neigungen.
Vielleicht ist dies die größte Stärke dieses starken Romans, was für ein Panoptikum der Gescheiterten hier vorgeführt wird. Ihre Fülle anzudeuten, wäre fast so ausufernd wie die informationsüberflutete Welt. Um wenigstens ein bisschen einen Überblick zu behalten, gibt es den Kaninchenstall. Hier hausen die meisten, und die Wände sind so dünn, dass sie „kein Leben vom anderen isolieren“.
Eine MeToo-Affäre wird zum Wendepunkt
Tiffany macht eine MeToo-Affäre durch, deren Schilderung zum eindringlichsten und konventionellsten Teil des unkonventionellen Buches wird. Danach ist sie eine andere und heißt Blandine wie die Heilige der Dienstmägde aus Lyon, die im 2. Jahrhundert nach Christi zum Folteropfer wurde und ihre Körperlichkeit überwand, um unantastbar zu sein.
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Blandine liest fortan die katholischen Mystikerinnen, besonders Hildegard von Bingen, und weiß nun endlich, wohin sie gehört, weil deren konsequente Beschäftigung mit sich selbst einen Ausweg weist: Einsamkeit als Bedingung für die Empfänglichkeit von etwas Höherem. Eine Frau lernt ihren Sohn aus seiner Browser-Chronik kennen. Ein anderer hat sein Interesse an Menschen auf Online-Begegnungen eingeschränkt. Joan Kowalski korrigiert auf einer Plattform Todesanzeigen, daheim umgibt sie sich mit Plastikpflanzen, weil sie Lebendes nicht erträgt.
Dieser Roman steigert die Ankunft im digitalen Zeitalter und spricht davon, wie man die transzendieren und seinen geschändeten Körper verlassen kann. Auf dem Weg dahin wirkt sich wie in der Chaostheorie alles auf alles aus, bis einem angenehm schwindlig wird. In der Danksagung spricht die Autorin von der „Wildheit dieses Buches“. „Komisch, oder? So nah an Leuten zu wohnen, von denen man nichts weiß.“ Tess Gunty treibt das in Extreme und schaut dabei so genau hin, wie das nicht alle Tage passiert.