Unser Autor Ulrich Schilling-Strack war einst Mick Jaggers „Nachbar“ und erinnert sich gut an die 60er Jahre im Zeichen der Rolling Stones.
Ich und Mick, das reicht lange zurück. Bis zum 20. August 1965: Da erschien „Satisfaction“, erst in England, dann auch in Deutschland. Bis die Scheibe dann im einzigen Plattenladen in unserer Kleinstadt eintraf, war man auf das Radio angewiesen, die einzige Verbindung zur Welt, viel wichtiger als der Fernseher, in dem „Zum Blauen Bock“ lief, in Schwarz-weiß.
Als „Satisfaction“ endlich in Hattingen einschlug, hängte der Plattenhändler eine handschriftliche Notiz ins Fenster wie später nur noch bei der Mondlandung. Wer die vier Mark für die Single nicht hatte, hockte weiterhin nachts vor dem Radio – da war der Empfang von Radio Luxemburg besser und die Eltern quatschten nicht rein.
So war das also, als ich und Mick zusammentrafen. Seitdem habe ich „Satisfaction“ unzählige Male gehört, zeitweise sogar mit meiner Band auf der Bühne gründlich ruiniert. Und dennoch die Aufregung, Begeisterung, Sprachlosigkeit nie vergessen, die mich beim allerersten „Dada, dadada-dadada, dada...“ durchglühten. Das war meine Fanfare, die Hymne aller Teenager, die ihren Frust bis dahin nur geahnt hatten. Und Mick war der Fahnenträger, unser Vorbild, das Idol. Plötzlich war alles andere unwichtig geworden. In der Schule musste sich jeder entscheiden: Beatles oder Stones?
Beatles oder Stones? Das war die Frage
Die beiden Lager standen einander unversöhnlich gegenüber. Beatles und Stones, das waren weitaus mehr als nur Bands. Das waren unsere besten Freunde. Wir hatten ja sonst nix. Robert aus der Parallelklasse behauptete nach einer weiteren missglückten Liebe, John und Paul hätten „She loves you“ nur für ihn geschrieben; und ich war sicher, dass Mick bei „Satisfaction“ in erster Linie an mich gedacht hatte. Ich begann mit dem Rauchen, weil es an einer Stelle im Song um Zigaretten ging.
Irgendwann sprachen wir uns sogar mit den Namen der Bandmitglieder an. Heinz war Keith, Dieter war Charlie, Thomas war Brian, der kleine Klaus war Bill, und ich – ich war Mick! Einer der wenigen Triumphe in meiner Schulzeit. Der Weg bis dahin war nicht leicht. Jeder in unserer Klasse wollte natürlich bei den Stones dabei sein, wenn schon die Beatlesnamen fest vergeben waren, und Mick war der König. Ich war plötzlich wer. Hatte bald sogar eine Freundin. Sie wohnte in Bredenscheid, da war noch weniger los als in Hattingen, und behauptete, Mick sei ihr älterer Bruder. Ich war sehr verliebt und habe das wider besseren Wissens wohlwollend akzeptiert.
Die Rolling Stones galten als Stoßtruppe des Teufels
Außerhalb unserer überhitzten Blase stieß diese Begeisterung auf Unverständnis, bei den Erziehungsbeauftragten gar auf Feindschaft. Die Beatles hatten wenigstens noch Anzüge an, aber die Stones, das war die Stoßtruppe des Teufels. Der erste Schüler mit langen Haaren wurde in der Aula vor allen gemaßregelt. Es gab Berichte von schweren Machtkämpfen in der Familie, Hausarrest und Taschengeldentzug. Meine Eltern, liebevoll und tolerant, übten sich in Nachsicht, baten aber irgendwann darum, „Satisfaction“ nicht immer in voller Lautstärke abzuspielen und nach jedem zehnten Mal vielleicht etwas anderes zur Entspannung auf den Plattenteller zu legen.
Auch interessant
Wir blieben hart, und in der Schule bliesen deshalb die ersten Lehrer zum vorsichtigen Rückzug. So schlimm sei das vielleicht doch nicht mit dieser Beatmusik, sogar lange Haare akzeptabel, aber gepflegt müssten sie sein. Entspannung kehrte ein. Im Musikunterricht verglich ein besonders progressiver Pädagoge die Beatles mit Mozart. Mein Biologielehrer redete mich schmunzelnd mit „Mike Jagger“ an, was das Ausmaß seiner Ignoranz enthüllte. Dann kam das Abitur, Wehrdienst, Universität, der erste Job. „Satisfaction“ wurde blasser, verschwand aber nie.
In London trafen wir Mick Jagger beim Joggen oder an der Ampel
Wir zogen um nach London. In die Nachbarschaft von Mick Jagger, wie sich herausstellte. Mick wohnte auf der Seite des Richmond Park, wo die reichen Leute auf die Themse blicken, wir auf der anderen. Manchmal trafen wir uns. Also, wir sahen uns, also ich sah ihn. Beim Joggen etwa, oder an der Ampel, wo Mick sich ohne Fahrer und Leibwächter in einem VW tarnte.
Einmal standen wir bei einem Reitturnier, an dem unsere Töchter teilnahmen, fast nebeneinander. Mick lächelte mir irgendwann freundlich zu. Wahrscheinlich war ihm aufgefallen, dass ihn da einer mit offenem Mund und schweißnasser Stirn anglotzte.
Vielleicht wollte er aber auch damit sagen, weißt du noch damals, „Satisfaction in Hattingen“? „Heute habe ich wieder deinen Bruder getroffen“, erzählte ich dann meiner Frau, die vor mehr als einem halben Jahrhundert als Micks jüngere Schwester in meine Leben trat. Sie freute sich.
Wir hatten nix in den Sechzigern? Das wäre wohl übertrieben, in der Rückschau. Wir hatten immerhin – Mick.