Ruhrgebiet. 2050 sollen Schätzungen zufolge 2,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung in Deutschland leben. Und zu betreuen sein? Wie? Wo? Von wem?

Demenz trifft nicht nur den Erkrankten und seine Familie. Demenz wird zunehmend zur gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. Täglich kommen 1000 neue Fälle hinzu; 2050 werden in Deutschland 2,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung leben, eine Million mehr als heute. Wer soll all diese Menschen versorgen? Das fragten wir Martina Roes, Sprecherin des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) am Standort Witten, Professorin an der Uni Witten/Herdecke, promovierte Soziologin und ausgebildete Krankenschwester.

Zwei Drittel aller Menschen mit Demenz werden zu Hause betreut, von Angehörigen. Ist das immer die beste Lösung für alle Betroffenen?

Martina Roes: Es ist auf jeden Fall eine sehr gute Lösung, weil es die Wünsche des zu Pflegenden reflektiert – und dessen größter Wunsch ist es in der Regel, zu Hause bleiben zu dürfen. Kritisch wird es, wenn die Krankheit fortschreitet und die Pflegenden gleich alt sind wie die Erkrankten. Wenn es keine Jüngeren gibt, die unterstützen können, und der Pflegedienst nur temporär für wenige Minuten am Tag vor Ort ist, aber eine 24-Stunden-Betreuung zu stemmen ist, bleibt alles an dieser einen Person hängen. Und die schafft das alleine vielleicht nicht mehr. Dieser Moment macht Stress. Die Angehörigen wollen ja für den Partner sorgen. Am Ende sind beide krank oder beide im Heim – was in solchen Fällen dann besser ist.

Warum sind Heime so wenig beliebt?

Noch vor 15 Jahren hatten Altenheime eine durchschnittliche Verweildauer von sieben Jahren, sie boten den Bewohnern eine echte Lebensperspektive. Heute liegt die Verweildauer im Schnitt unter zwei Jahren – und die Menschen sind in einem gesundheitlich viel schlechteren Zustand als früher, wenn sie einziehen. Wenn ich heute ins Altenheim gehe, muss ich mich mit dem Tod beschäftigen. Ich gebe zudem meine Autonomie auf, vielleicht auch mein Auto. Ich kann nicht mehr jederzeit rausgehen und so lange schlafen, wie ich will. Da hat keiner Lust drauf, Menschen mit einer Demenzerkrankung erst recht nicht. Deswegen sind Heime unbeliebt, nicht weil sie alle schlecht sind.

„Tagespflege ist wichtig, gerade bei beginnender Demenz.“

Prof. Martina Roes
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Witten

Welche anderen Betreuungskonzepte funktionieren gut?

Tagespflege ist wichtig, gerade bei beginnender Demenz: Zwei-, dreimal pro Woche volles Programm, Kunst, Musik, Ergotherapie, Spaziergänge, gemeinsame Frühstücke – da findet viel Förderung statt. Das ist gut für die Betroffenen und entlastet ihre Angehörigen. Kurzzeit- oder Verhinderungspflege bringen den Angehörigen ebenfalls viel. Die brauchen ja auch mal Urlaub, werden krank oder haben etwas zu erledigen. Der Einsatz von Ehrenamtlichen und Freiwilligendienste, die Demenzkranke in der Häuslichkeit – manchmal auch im Heim – besuchen, vorlesen, oder sie zum Friseur, beim Einkaufen begleiten, das funktioniert auch ganz gut.

Ein sehr guter Ansatz sind sogenannte Demenz-WGs. Gemeinschaften mit Wohncharakter, oft bewusst als Gegenentwurf zum Heim geplant, mit viel Freiheit für die Bewohner. Für Angehörige ist diese Alternative sehr interessant. Das Problem ist: Es gibt zu wenige – und sie sind teuer.

Der demografische Wandel – immer mehr Menschen werden immer älter – verschärft das Problem. Schon heute fehlen bundesweit 120.000 Altenpflegekräfte, 2035 werden sogar 500.000 fehlen, fürchtet das Institut der Deutschen Wirtschaft. Wird unser Gesundheitssystem das meistern?

Sagen wir mal so: Im Grenzbereich, sind wir schon heute. Und diese Zahlen sind nur Zahlen. Dass wir im Moment über eine so exorbitante Steigerung sprechen, liegt auch daran, dass wir heute Demenz viel besser erkennen können als früher, weil es bessere Instrumente zur Diagnostik gibt. Und wir haben viel Aufmerksamkeit gerade auf die Phase der beginnenden Erkrankung. Da können wir ansetzen, mit der kognitiven Stimulation früher einsteigen. Ich gehe zudem davon aus, dass schon bald eine medikamentöse Alzheimer-Behandlung zugelassen wird. Das alles zusammen wird sich auf die prognostizierten Zahlen auswirken und die Kurve flacher halten. Viele Menschen werden erst so spät so krank sein, dass es versorgungsrelevant wird.

Andererseits: Werden die Menschen zukünftig noch kränker sein, wenn sie ins Heim kommen. Das führt zu einer deutlichen Erhöhung der Anforderung an die Pflege. Unabhängig davon, ob es gelingen wird, mehr Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern. Was ich im Übrigen nicht erkennen kann. Das Image bleibt schlecht. Die generalisierte Ausbildung hilft bei diesem Problem eher nicht.

Sie entwickeln auch ganz neue Versorgungsmodelle. Welche Utopien haben Sie?

Meine Utopie? Gar nicht an die Zukunft denken zu müssen. Das Grundproblem liegt meines Erachtens heute in der starken Fragmentierung der Versorgung – hier die ambulante Pflege, da die medizinische Versorgung, dort die stationäre Betreuung. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sehen die Angebote nicht als Gesamtleistung. Sich in der aktuellen Gemengelage zurechtzufinden, fällt schwer. Die einzelnen Bausteine besser zu verknüpfen, wäre hilfreich. Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie das zu erreichen ist. Am vielversprechendsten erscheint mir das Case-Manager-Modell (Case-Manager koordinieren in Kliniken alle Abläufe für einen einzelnen Patienten, von der Aufnahme bis zur Entlassung und darüber hinaus). In den USA ist es an den Krankenhäusern angesiedelt, denkbar wäre es auch für Pflegeeinrichtungen.

In einer Klinik in Niedersachsen testen wir gerade ein „Demenzbegleiter-Modell“, weil wir denken, jede Klinik, jede Station wird demnächst welche brauchen. Wir sehen schon, wie positiv sich das auswirkt, wenn da jemand ist, der kleine Hol- und Bringdienste übernimmt, zwischen Patient, Angehörigen, Pflege und Ärzten vermittelt, den Kranken an die Hand nimmt.

Prof. Dr. Martina Roes, DZNE

„Demenzfreundliche Krankenhäuser sehen die Angehörigen nicht als Störfaktor. Sie binden sie mit ein.“

Prof. Martina Roes
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Witten

Rooming-in im Krankenhaus wünschen sich viele Angehörige. Das scheitert in erster Linie an der Finanzierung. Die Pauschale, die Kliniken dafür bekommen, ist kleiner als die für ein Patientenbett. Das muss sich ändern. Klinik-Aufenthalte sind eine maximale Belastung für Demente. Danach geht es oft rapide bergab. Eine vertraute Person an der Seite bringt Stabilität für den Patienten.

Schließlich sehe ich großen Nachholbedarf bei den Demenz-WGs. Andere Länder machen damit schon sehr gute Erfahrungen.

Sie haben es schon angesprochen: Die meisten von uns wollen so lange wie möglich zu Hause leben. Wunschdenken – oder ein Begehr, das durch Umgestaltung des Zuhauses unterstützt werden kann?

Technik hilft, klar. Von Tele-Medizin oder -Nursing bis Servicerobotern ist da noch viel Potenzial.

Muss sich vielleicht auch in der Architektur unserer Städte etwas verändern, damit sich Menschen mit Demenz besser darin zurechtfinden?

Unbedingt. Aber wir wissen eigentlich noch zu wenig über das Thema. Wir haben etwa in vielen Altenheimen Tierbildchen an den Türen der Bewohner oder farbliche Leitsysteme auf den Böden – aber wir wissen nicht, ob diese Dinge Dementen wirklich helfen, sich zu orientieren. Man kann ihnen zwar sagen, der rote Pfad führt ins Speisezimmer und der gelbe zum Bett. Aber womöglich weiß der Bewohner gar nicht mehr, was rot ist, was gelb. Es würde schon helfen, wenn Städte Ticketautomaten aufstellen, die zu verstehen sind. Oder Ampelkreuzungen übersichtlicher gestalten. Mit beiden haben heute auch nicht kognitiv eingeschränkte Menschen Probleme. Und dass die Fußgängerampel auf Rot steht, muss doch nicht durch „piep piep piep“ signalisiert werden. Besser wäre die klare Ansage: „Bitte stehenbleiben!“

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In der Nationalen Demenzstrategie geht es auch darum, Krankenhäuser „demenzsensibler“ zu machen. Was heißt denn das?

Demenzfreundliche Krankenhäuser sehen die Angehörigen nicht als Störfaktor. Sie binden sie mit ein. Das Personal dort ist qualifiziert und geschult im Umgang mit Menschen mit Demenz. Es kennt nicht nur Alzheimer, sondern auch andere Formen der Demenz. Es gibt Rooming-in und Demenzbegleiter, auch in der Notaufnahme. Solche Krankenhäuser haben zudem ein sehr gutes Delir-Management. Und sie entlassen keine Patienten mit Verdacht auf Demenz – ohne sicherzustellen, dass das auch abgeklärt wird.

Das DZNE gibt die bundesweiten „Kosten für Demenz“ für 2020 mit rund 83 Milliarden Euro an, 2060 könnten es 195 Milliarden sein. Ist die zukünftige Versorgung von Demenzkranken auch eine wirtschaftliche Frage?

Ja, definitiv. Wenn es gelänge, Alzheimer-Patienten früher zu identifizieren, und sie dann sofort zu therapieren, trüge das auf lange Sicht dazu bei, Kosten einzusparen. Aber preiswerter wird es sicher nicht. Schließlich müssen auch die Hospize vorbereitet werden. Die kümmern sich bislang vor allem um Krebspatienten, werden es künftig aber immer mehr mit Demenzkranken zu tun bekommen.

Wer soll das bezahlen?

Da sind Sie und ich gefordert. Wir müssen dabei vor allem im Blick behalten, dass sich keine neue gesellschaftliche Kluft auftut. Demente müssen oft früher als andere in Rente gehen, im Alter stehen sie finanziell oft nicht gut da. Wir müssen verhindern, dass sozial oder finanziell benachteiligte Menschen mit Demenz von der Versorgungsleistung abgehängt werden.