Mit 60 Jahren selbstständig machen. Immer mehr Hamburger gehen diesen noch ungewöhnlichen Schritt. Experten sehen einen neuen Trend.

Hamburg. Ruhig ist es. Viele Geschäfte in der Nachbarschaft öffnen erst später, die meisten Menschen sind noch auf dem nahe gelegenen Wochenmarkt Poppenbüttel unterwegs. Auch Hella Dreyer macht ihr Geschäft normalerweise erst in einer halben Stunde auf, sie will aber heute vorher noch kurz durchsaugen. Die ersten Kundinnen kommen trotzdem schon herein. „Wenn ich da bin, ist der Laden auch offen­ – unabhängig von irgendwelchen Ladenöffnungszeiten“, sagt Hella Dre­yer im Vorbeilaufen. Sie hilft einer Kundin bei der Anprobe, berät eine andere bei der Auswahl. Zeit hat sie gerade nicht. „Bin schließlich in Rente“, sagt sie und lacht. Dann deutet sie zur Erklärung auf ein Buch im Schaufenster. Der Titel: „Keine Zeit, bin in Rente!Von wegen Ruhestand.“

Ruhestand gleich Rente? Ruhe? Ruhiges Leben? Von wegen! Immer mehr Menschen machen sich in der zweiten Lebenshälfte selbstständig. Laut DIHK-Gründerreport sind inzwischen ein Fünftel aller beratenen Gründer älter als 50 – zehn Jahre zuvor waren es zwölf Prozent. Konkret heißt das: Im Jahr 2012 haben 8624 ältere Gründungsinteressierte den IHKs ein Geschäftskonzept vorgelegt. Allein in Hamburg waren 2014 mehr als 1000 Gründer über 60 Jahre alt. Während die Zahl der Gewerbeanmeldungen zurückgeht und in der Hansestadt zwischen 2009 und 2014 von 24.178 auf 21.718 sank, stieg im gleichen Zeitraum der Anteil der Ü60-Gründer an.

Hella Dreyer hat mit 65 Jahren einen eigenen Laden eröffnet

Hella Dreyer hat sich mit 65 Jahren selbstständig gemacht und einen eigenen Laden eröffnet. Das Annabell’s in Poppenbüttel, benannt nach ihrer Enkeltochter. Zwei Monate, nachdem sie in Rente gegangen ist. 23 Jahre hat sie in einem Möbelhaus gearbeitet, bei den „Polstermöbeln“, wie sie es nennt. „Ich wäre dort gerne noch länger geblieben, doch das ging nicht“, sagt Hella Dreyer und meint: länger als bis 65. Länger als bis zum Ruhestand. Bis zur Rente. Bis zum Nichtstun. Rumsitzen. Nein, das sei nicht ihr Ding gewesen, sagt Hella Dreyer. Schließlicht sei 65 doch noch kein Alter. Und 69 auch noch nicht. So alt, wie sie jetzt ist. „Meine Mutti war bis Mitte 90 fit und agil“, sagt Hella Dreyer. Das will sie auch. Aufhören, wenn’s am schönsten ist? Davon hält sie gar nichts.

Rund 500 Kilometer weiter in Eschborn liegt das Büro von Noemí Fernández Sánchez. Zimmer 1.10 im ersten Stock des RKW Kompetenzzentrums – eine gemeinnützige Forschungs- und Entwicklungseinrichtung des RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrums der Deutschen Wirtschaft. Noemí Fernández Sánchez ist Projektleiterin im Fachbereich Gründung und hat jüngst eine Studie veröffentlicht, in der es um Menschen wie Hella Dreyer geht. Der Titel: „Gründerinnen und Gründer ab dem mittleren Alter: Schlüsselfaktor für die Wirtschaft“. Noemí Fernández Sánchez spricht nie von „älteren“ Menschen, wie es die Allgemeinheit tut. Weil ihr der Begriff zu negativ besetzt sei, nur negative Charakteristika assoziiere: verminderte Leistungsfähigkeit, schlechter Gesundheitszustand und eine eingeschränkte Flexibilität. Aus diesem Grund verwendet sie den Begriff „Gründer ab dem mittleren Alter“, oder auch „Gründer in der zweiten Lebenshälfte“ und meint: Menschen ab 45 Jahren. „Wir haben ein neues Verständnis von Alter: Was früher ,ältere‘ Menschen waren, sind heute Menschen im mittleren Alter.“

Die Feinheiten sind Noemí Fernández Sánchez genauso wichtig wie die Fakten. Fakten wie diese: Egal ob 45, 55 oder 65 Jahre: Unternehmensgründungen durch Menschen in der zweiten Lebenshälfte nehmen kontinuierlich zu. Allein zwischen den Jahren 2007 bis 2012 stieg der Anteil der über 45-jährigen Gründer oder Gründerteams von 23,3 auf 30,7 Prozent. „Die Zukunft gehört den Gründerinnen und Gründern ab dem mittleren Alter“, glaubt Noemí Fernández Sánchez und zitiert Zahlen aus der Schweiz und den USA, wo Gründer ab dem mittleren Alter bereits die Mehrheit stellen. Noemí Fernández Sánchez ist selbst erst 39 Jahre alt. Doch die Gründer in der zweiten Lebenshälfte faszinieren sie. Weil sie ihr gezeigt haben, dass es nie zu spät ist, um noch einmal durchzustarten. Im Beruf. Im Leben.

Michael Kranaster braucht den Lärm

Leben. Lärm. Lachen. Im Büro von Michael Kranaster ist es alles andere als ruhig. In der Bergstraße, Ecke Mönckebergstraße, ist viel los, In seinem Büro auch. Michael Kranaster braucht das, um arbeiten zu können. Extrovertiert sei er, vielleicht sogar ein bisschen ruhelos. 64 Jahre ist er alt, doch von Ruhestand kann keine Rede sein. Das passe einfach nicht zu ihm, sagt er. Michael Kranaster ist Client Partner im Hamburger Büro der InterSearch Executive Consultants. Andere würden ihn als Headhunter bezeichnen, er selbst spricht von Executive Search und meint: die Betreuung von Unternehmen der Immobilien- und Finanzwirtschaft bei der Besetzung von Führungspositionen. Positionen, die er aus eigener Erfahrung kennt. Er war Bereichsleiter für gewerbliche Immobilienfinanzierung bei der Deutschen Bank und Niederlassungsleiter Hamburg der Eurohypo AG mit Verantwortlichkeit für die norddeutschen Bundesländer. In seiner alten Tätigkeit hat er bis zu 100 Mitarbeiter geführt, jetzt führt er nur sich alleine.

2011 hat er sich selbstständig gemacht, mit 61 Jahren. Als es in der Firma Umstrukturierungen gab. Als man ihm angeboten hat, in den Vorruhestand zu gehen. Und als er den Wunsch hatte, noch einmal etwas Neues zu machen. Nicht Golfspielen oder so. „Sondern etwas, das einen fordert“, sagt Michael Kranaster und erzählt, wie die Firma ihn abgefunden hat und er arbeitslos geworden ist. Wie er die Zeit genutzt hat, um einen Businessplan auszuarbeiten, einen Gründerzuschuss zu beantragen und sich selbstständig zu machen. Sein Ding zu machen, wie er es nennt. Vier Jahre ist das her. Jahre, in denen er als selbstständiger Personalberater für Intersearch tätig ist. Jahre, in denen es für ihn immer unvorstellbarer geworden ist, „einfach nur zu Hause rumzusitzen“. Jahre, in denen er sich nie alt gefühlt hat. Und schon gar nicht zu alt. Im Gegenteil: „Ich sehe mein Alter nicht als Nachteil, sondern als Vorteil: Weil ich mehr Erfahrung, Kontakte und Gelassenheit habe als früher“, so Michael Kranaster.

Und damit steht er nicht alleine da: Im Vergleich zu jüngeren Gründern punkten die 50plus laut DIHK-Gründerreport vor allem mit ihrer höheren Lebenserfahrung, ihren langjährigen Kenntnis der Branche, Planungs- und Führungserfahrungen sowie angespartem Startkapital. Nachteile sind laut Experten jedoch mangelnde Flexibilität sowie die Angst der Banken, ob die geschäftsaktive Zeit ausreicht, um aufgenommene Kredite zu tilgen.

Keine Zeit für Ruhetage

Kranaster ist Berater bei Intersearch in der Bergstraße
Kranaster ist Berater bei Intersearch in der Bergstraße © Michael Rauhe

Für Michael Kranaster ist das kein Problem: Das Startkapital war mit rund 10.000 Euro so gering, dass er keinen Kredit aufnehmen musste. In zwei Jahren geht seine Frau in Rente, doch selbst dann will er weitermachen. Ausruhen? Ruhetage? Dafür hat er keine Zeit. „Erst recht nicht, wenn man Mitarbeiter hat und auch sonst die Kostenuhr tickt. Umsätze macht man doch nur, wenn man ständig umtriebig ist, oder?“ Es ist eine rhetorische Frage, die Antwort gibt er selbst. Er erzählt von Veranstaltungen bei Banken und Anwaltskanzleien, Immobilientagungen, Messen in Cannes und München sowie seinem Engagement im Ausschuss für Stadt- und Regionalentwicklung der Handelskammer. In der Freizeit geht es weiter. Freie Zeit gibt es nicht. Sport. Tennis. Laufen. Marathons. Weiter, immer weiter. Kaum Ruhe. Kein Ruhestand. Das wäre für ihn ein Stillstand.

Zurück zu Hella Dreyer ins Annabell’s. Der erste Ansturm ist vorbei, Hella Dreyer hat Zeit zum Erzählen. Wie alles begonnen hat. Wie ihr Mann den leer stehenden Laden entdeckt und ihr das Startkapital geschenkt hat. Wie sie das erste Mal ins Modecentrum gefahren ist und Waren eingekauft hat. Und wie sie mit „einer Hand voll Sachen“ eröffnet hat. „Ich habe ganz bescheiden angefangen. Mit einem einzigen Kleiderständer voll Mode und ein paar Asseccoires. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, oder“, fragt Hella Dreyer und zeigt auf die vollen Regale, Tische, Kleiderständer und Schränke. Selbst an der Decke hängen noch Waren, eine Wäscheleine mit Boxershorts und Socken. Ihr Sortiment ist so bunt wie ihr Lebenslauf. Es gibt Handtaschen und Bilderrahmen, Luftballons und Porzellan, Wein und Schokolade, Schuhe und Körbe, Likör und Mode. „Ich ändere ständig das Sortiment, sonst wird es langweilig“, sagt Hella Dreyer. Sie hat bewusst einen kleinen Laden angemietet, 60 Quadratmeter. So klein, dass sie keine Angestellten braucht, alles alleine machen kann. Genau deswegen habe sie sich ja selbstständig gemacht. Weil sie gerne im Laden steht und verkauft. Weil sie gerne mit den Kunden zusammen ist. Aus diesem Grund hat sie sich auch dagegen entschieden, ein zweites Geschäft aufzumachen – so wie einige Kunden ihr das geraten haben, weil das Annabell’s so gut läuft. „Ich habe ja kein Unternehmen gegründet, um reich und erfolgreich zu werden. Sondern um eine Aufgabe zu haben, die mich ausfüllt. Glücklich macht. Und wenn ich dabei auch noch Geld verdiene, umso besser“, sagt Hella Dreyer. Sie weiß, dass sie in einer komfortablen Situation ist. Dass sie es leichter als andere Gründer hat.

„Alter spielt keine Rolle“

Weil sie weiter ihre Rente bekommt. Weil sie nicht alleine von den Einnahmen aus dem Geschäft leben muss. Weil sie keinen Kredit abbezahlen muss. Fünf Tage wöchentlich steht sie im Laden, von 10 bis 18 Uhr, durchgehend. Den sechsten Tag übernimmt ihr Mann Jan. Wenn sie in den Urlaub fährt, schließt sie das Geschäft. „Diese Auszeiten sind mir heilig“, sagt sie. Neben ihr im Regal liegt ein Buch. Es heißt: „Alter spielt keine Rolle. Außer man ist ein Rotwein.“

Und was ist mit Noemí Fernández Sánchez? Ob sie selbst über das Rentenalter hinaus arbeiten wird? Das kann sie heute noch nicht sagen. Was sie aber jetzt schon weiß: dass eine Existenzgründung für sie selbst infrage kommt. Wann? Sie lacht: im fortgeschrittenem Alter! Natürlich.