Berlin. Alle Parteien versprechen weniger Bürokratie. Unternehmer Lutz Goebel berät die Regierung beim Bürokratieabbau – und sagt, was passieren muss.
In einem sind sich alle Parteien im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 einig: Es geht zu bürokratisch zu in Deutschland, zu oft verhindern Hürden Fortschritte. Wie aber kann das Problem gelöst werden? Dafür hat die Bundesregierung ein eigenes Beratergremium: den Nationalen Normenkontrollrat (NKR). Zehn ehrenamtliche Mitarbeiter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bilden den Rat, an ihrer Spitze steht Lutz Goebel. Der Unternehmer ist Geschäftsführender Gesellschafter des Motorenherstellers Henkelhausen und war lange Präsident des Verbandes „Die Familienunternehmer“. Im Interview sagt er, was sich ändern muss.
Herr Goebel, die deutsche Wirtschaft klagt unisono über die überbordende Bürokratie. Zu Recht?
Lutz Goebel: Auf jeden Fall, die Bürokratie ist immer weiter angewachsen. Mehr als die Hälfte der Gesetze kommt mittlerweile aus der EU. Die belasten die Wirtschaft am meisten. Zusätzlich werden Unternehmen viele Vorgaben von Berufsgenossenschaften und Normen aufgedrückt.
Die zerbrochene Ampel wollte mit dem Bürokratieentlastungsgesetz gegenwirken ...
Goebel: Dass mit dem vierten Bürokratieentlastungsgesetz erstmalig eine Trendwende zu erkennen ist, war lange überfällig. Die milliardenhohen Kostenanstiege der vergangenen Jahre konnten ausgebremst werden, so steht es in unserem aktuellen Jahresbericht. Das reicht aber trotzdem nicht aus. Denn das Aufwandsplateau, auf dem wir insgesamt angekommen sind, ist einfach zu hoch. Die geplante Wachstumsinitiative der scheidenden Ampelkoalition hatte das Potenzial, genau hier anzusetzen und Bürokratie langfristig abzubauen. Aber die kommt nun nicht mehr.
Was genau hätte die Wachstumsinitiative verbessert?
Goebel: Beispielsweise hätte es kein Übererfüllen der EU-Vorgaben, das sogenannte „Goldplating“, mehr gegeben. Sinnvoll wäre auch das geplante jährliche Bürokratieentlastungsgesetz gewesen. Vorgesehen war zudem ein Bürokratieabbaupfad. Dem hat es uns aber noch an einem klaren Ziel gefehlt. Deshalb haben wir von der Bundesregierung gefordert: 25 Prozent Bürokratieabbau in vier Jahren – das wäre ein großer Aufschlag gewesen! Immerhin kostet die Bürokratie die Wirtschaft 65 Milliarden Euro – pro Jahr.
Wie hat sich der bürokratische Aufwand für die Unternehmen unter der Ampel entwickelt?
Goebel: Am Anfang ist er stark gestiegen. Gerade das als Heizungsgesetz bekannte Gebäudeenergiegesetz war enorm bürokratisch. Aber auch europäische Vorgaben wie das Lieferkettengesetz, die Nachhaltigkeitsberichterstattung und die Taxonomie belasten sehr. Man konnte dem früheren Justizminister Marco Buschmann ansehen, dass er physisch unter der Umsetzung gelitten hat. Immerhin will Frau von der Leyen nun mehrere europäische Berichtspflichten zusammenfassen. Das ist auch notwendig.
„Die Politik hat endlich erkannt, dass Bürokratieabbau keine Staatsknete kostet, sondern ein kostenloses Konjunkturprogramm ist. Aber jetzt müssen wir ins Umsetzen kommen. “
Spüren Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag eine Entlastung?
Goebel: Große Fortschritte kann ich nicht erkennen, das ist alles viel zu wenig.
Auch jetzt im Wahlkampf versprechen alle Parteien Bürokratieabbau. Wie glaubhaft ist das?
Goebel: Die Themen Bürokratieabbau und Staatsmodernisierung spielen in allen Wahlprogrammen eine wichtige Rolle. Dennoch sollten die guten Ansätze aus der Wachstumsinitiative in der nächsten Legislaturperiode unbedingt kommen. Die Politik hat endlich erkannt, dass Bürokratieabbau keine Staatsknete kostet, sondern ein kostenloses Konjunkturprogramm ist. Aber jetzt müssen wir ins Umsetzen kommen. Wenn wir zum Beispiel so digitalisiert wären wie Schweden, wäre laut einer aktuellen Studie des Ifo-Instituts unser BIP 4,6 Prozent höher!
Die „One in, one out“-Regel besagt, dass zusätzlicher Aufwand nur kommen darf, wenn er im selben Umfang reduziert wird. Reicht das, um effektiv im Bürokratieabbau sein zu können?
Goebel: Nein. Die Regel besagt ja, dass jede Vorgabe, die die Wirtschaft belastet, spätestens bis zum Ende der jeweiligen Legislaturperiode durch eine entlastende Vorgabe in gleicher Höhe ausgeglichen werden muss. Die Kosten werden dadurch gebremst, aber Bürokratie abgebaut wird da noch lange nicht. Außerdem klammert die Regel erhebliche Kosten einfach aus: Einmalige Aufwände, die die Unternehmen jedes Jahr in Milliardenhöhe belasten, Aufwände der Bürger und der Verwaltung und der gesamte Aufwand aus EU-Recht werden einfach nicht eingerechnet. Um das Instrument wirksam und effektiv zu machen, müsste die Regel also deutlich geschärft werden.
Teile der Wirtschaft halten den Normenkontrollrat für einen zahnlosen Tiger. Würden Sie sich mehr Durchgriffsrechte wünschen?
Goebel: Der NKR ist ein gesetzlich verankertes, unabhängiges Expertengremium, das die Bundesregierung berät. Wir überprüfen, welche Kosten neue Gesetze verursachen, ob praxistauglichere Alternativen bestehen und wie eine gute digitale Ausführung erreicht werden kann. Wir können aber nicht verhindern, dass Politiker schlechte Gesetze durchbringen. Deshalb wäre es sinnvoll, den NKR mit einem aufschiebenden Vetorecht für Gesetze auszustatten, bei denen Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis stehen, die nicht gut gemacht sind, die den Digitalcheck nicht bestehen. Unser Schwestergremium auf EU-Ebene hat beispielsweise die Möglichkeit für ein solches Veto.
„Ich erlebe einen Bürokratiewahnsinn.“
Bei welchen Gesetzen der Ampel hätten Sie Ihr Veto eingelegt?
Goebel: Zum einen bei der Pflegepersonalbemessungsverordnung aus dem Bundesgesundheitsministerium. Das klingt nicht nur sperrig, dahinter steht ein wahnsinniger täglicher Aufwand für Krankenhäuser, wie sie ihre Personalressourcen zu dokumentieren haben. Zum anderen das Gebäudeenergiegesetz. Das war einfach nicht zu Ende gedacht. Hier hätten die Ministerien nacharbeiten und bürokratieärmere Lösungen vorschlagen müssen.
Inwiefern?
Goebel: Dass das Gesetz vor der kommunalen Wärmeplanung gekommen ist, war einfach nur unlogisch. Auch inhaltlich war es nicht überzeugend. Man merkte dem Gesetz an, dass diejenigen, die es umsetzen müssen und die betroffen sind, nicht genug in die Entwicklung eingebunden waren!
Sie sind selbst Unternehmer. Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit Bürokratie gemacht?
Goebel: Ich erlebe einen Bürokratiewahnsinn. Ein Beispiel: die sogenannte NIS 2-Richtlinie. Dabei muss sich ein Unternehmen gegen Cyberrisiken aufstellen. An sich eine gute Idee. Aber es ist so komplex, dass kleine und mittlere Unternehmen sie schlicht nicht umsetzen können. Zweites Beispiel: Die Nachhaltigkeitsberichterstattung muss von den Wirtschaftsprüfern bei Jahresabschluss mit geprüft werden und deswegen steigen wir jetzt schon ein Jahr vorher in den Dialog ein.
Wer liest all die Nachhaltigkeitsberichte eigentlich?
Goebel: Das ist die entscheidende Frage. Wer liest das, was wird damit gemacht, was hat das für Konsequenzen? Wenn man das nicht beantworten kann, dann müssen die Berichtspflichten weg. Man hat jahrelang die Unternehmen gegängelt, ohne dass man weiß, was mit diesen Berichten passiert. Kleine Unternehmen kostet Bürokratie drei Prozent vom Umsatz. Sie frisst damit die Hälfte des Gewinns auf. Die kleinen Unternehmen bringt das um, große Unternehmen können es noch stemmen, da ist es ein Prozent des Umsatzes.
Wie problematisch ist das gerade in der jetzigen Krisenzeit?
Goebel: Teilweise werden die Vorgaben ignoriert. Das ist dann zwar heimlicher Bürokratieabbau, aber auch eine Gefahr für den Rechtsstaat!
Aus Europa kommen immer wieder neuen Vorgaben, die auch zu mehr Bürokratie führen. Zum Beispiel beim Recht auf Reparatur, das bis Juni 2026 in nationales Recht umgesetzt werden soll. Geht das überhaupt bürokratiearm?
Goebel: Als Unternehmer sträube ich mich schon gegen das Gesetz. Warum kann das Unternehmen das nicht selber organisieren, warum muss das geregelt werden? Das stört an der EU besonders: Es werden Dinge geregelt, die keine Regelung brauchen. Bei der Umsetzung müssten zumindest die an den Tisch, die bauen und reparieren. Und keine Bürokraten in Brüssel.
Sie plädieren also für einen grundlegenden Mentalitätswandel?
Goebel: Wir müssen als Bürger umdenken. Einzelfallgerechtigkeit wird nicht mehr abbildbar sein. Der Gesetzgeber kann nicht alles zu 100 Prozent kontrollieren. Kommunen können schon längst nicht mehr abbilden, was vom Bund produziert wird. Wir werden die Macht des Faktischen erleben: Es geht einfach nicht mehr.
„Mit der Kettensäge Bürokratie abbauen, ist in Deutschland zum Glück nicht nötig.“
Viele bürokratieverursachende Gesetze sind aus Erfahrungen mit Missständen entstanden und sollten Verbraucherrechte stärken. Ist ein Bürokratieabbau also gleichbedeutend mit einem Abbau der Verbraucherrechte?
Goebel: Ich bin da anderer Auffassung. Wir haben es übertrieben und müssen uns nun fragen, was wir uns noch leisten können. Es kann doch nicht sein, dass beispielsweise die Kosten für den Brandschutz bis zu zehn Prozent eines Gebäudewertes ausmachen. Das hat der NKR Baden-Württemberg so gemessen.
Christian Lindner (FDP) würde gerne „mehr Milei und Musk wagen“. Eine gute Idee mit Blick auf die Bürokratie?
Goebel: Wir müssen beim Bürokratieabbau neue Wege gehen, wenn wir endlich langfristige Erfolge erzielen wollen. Denn die Herausforderungen sind groß: Der Bewegungsspielraum der Regierung ist eingeschränkt, das Budget ist ausgeschöpft, die Zukunft fällt hinten runter, weil man sich mit der Gegenwart beschäftigten muss. Der Unternehmer Musk ist insofern inspirierend, weil er mit Innovationskraft scheinbar unüberwindbare Hürden gemeistert hat. Genau das brauchen wir auch beim Bürokratieabbau. Wir müssen etablierte Strukturen hinterfragen und neue Ansätze wagen. Ansonsten lassen sich keine Parallelen zu Musk ziehen und schon gar nicht zu Milei. Mit der Kettensäge Bürokratie abbauen, ist in Deutschland zum Glück nicht nötig.
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Braucht es in der kommenden Legislaturperiode ein Digitalisierungsministerium?
Goebel: Ein Digitalministerium wäre eine gute Sache, wenn es ein Vetorecht bei ineffizienten, schlecht gemachten Digitalprojekten hat und mit ausreichend Geld und Kompetenzen ausgestattet ist. Wäre es das nicht, wäre es nur Makulatur.
Bund und Länder haben sich in diesem Jahr auf das sogenannte Onlinezugangsgesetz 2.0 verständigt. Ab 2028 dürfen demnach Bürgerinnen und Bürger digitale Behördengänge einklagen. Ist das zu schaffen?
Goebel: Das kann ich nicht beurteilen, weil im Vergleich zum OZG 1.0 eher intransparent damit umgegangen wird. Das Hauptproblem ist, dass der Bund keine Kompetenzen für Vorgaben von Schnittstellen und Standards hat. Der Blick nach Österreich zeigt, wie es besser gehen würde. Dort hat der Bund über die E-Government-Kooperation mehr Kompetenzen in der Digitalisierung, auch die der Länder und Kommunen. Wir in Deutschland müssen ebenfalls Verwaltungsleistungen bündeln. Beispielsweise bei der Visa-Abfrage für Ausländerbehörden. Es ergibt keinen Sinn, dass jede Kommune das selbst macht. Wenn ein Visa-Antrag ein Dreivierteljahr dauert, dann kommt der Antragssteller nicht.
Welche Punkte zum Bürokratieabbau gehören aus Ihrer Sicht in ein 100-Tage-Programm der neuen Regierung?
Goebel: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz muss reduziert werden. Man könnte beispielsweise OECD-Länder freizeichnen in puncto Menschenrechtsverletzungen. Als Lieferant könnte man zertifiziert werden und damit nachweisen, dass man sauber ist. Dritter Punkt: Die Unternehmen bekommen viele verschiedene Fragebögen. Gäbe es einen einheitlichen Fragebogen, würde es uns viel Zeit sparen. Insgesamt sollte der Staat aufhören, unbegrenzt Daten abzufragen, die er sich selber aus Registern ziehen könnte. Etwa bei der Grundsteuer. Aber weil die Register alle nicht miteinander vernetzt sind, müssen wir dem Staat immer wieder alles zuliefern. Deshalb gehört die sperrig klingende Registermodernisierung auch zur Chefsache erklärt in der nächsten Legislaturperiode.
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In den vergangenen Jahren haben wir Beispiele gesehen, die unbürokratisch funktionierten. Teslas Werk in Grünheide etwa oder der Aufbau der LNG-Infrastruktur. Kann man daraus Lehren ziehen?
Goebel: Da bin ich fest davon überzeugt. Wenn man will, geht es.
Welche Branche ist von der Bürokratie am stärksten betroffen?
Goebel: Versicherungen und Banken – bei ihnen kostet Bürokratie rund sieben Prozent des Umsatzes. Das sind die hochregulierten Branchen!
Bei Banken gibt es viele bürokratische Vorschriften als Konsequenz aus der Finanzkrise. Ist das so falsch?
Goebel: Wer ein Auto fremdfinanziert bei einer Bank, bekommt einen riesigen Stapel Papier. Niemand liest sich das seitenweise durch, man unterschreibt, ohne zu wissen, was dort steht. Man kann mit Sicherheit auf die Hälfte davon verzichten. Natürlich müssen Banken reguliert werden, natürlich müssen sie ein gewisses Eigenkapital haben. Aber unsere jetzige Ausgestaltung ist völlig übertrieben.
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Zur Person: Lutz Goebel
Lutz Goebel ist seit 2022 Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats. Zuvor war der Vater zweier erwachsener Kinder sechs Jahre lang Präsident des Familienunternehmer-Verbandes. Seit 1998 ist der gebürtige Siegener Geschäftsführender Gesellschafter des Motorenherstellers Henkelhausen, die operative Geschäftsführung hat der 69-Jährige vor zwei Jahren an seine Tochter Eva Valentina Kempf abgegeben.