Mexiko-Stadt. Der Ultraliberale unterzieht Argentinien seit knapp einem Jahr einem Radikalumbau, mit schweren Verlusten. Der FDP-Chef lobt einen Aspekt.

„Mehr Milei oder Musk wagen“ – mit diesem Statement in der ARD-Sendung „Caren Miosga“ lobte FDP-Chef Christian Lindner den argentinischen Staatschef als liberales Vorbild. Dabei ist sowohl Trump-Berater Musk als auch der Argentinier heftig umstritten. Lindner sagte später, er sei sich im Klaren über die „Scharfkantigkeit“ der beiden. „Ich verkenne nicht, dass es hier auch Problematisches gibt. Aber was mich beeindruckt, ist dort die Kraft zur Disruption, eine Wende herbeizuführen, wenn ein Abstieg droht. Und das fehlt uns in Deutschland.“ Die Ampel-Koalition habe sich blockiert. Kanzler Scholz sei in Ängsten gefangen.

Doch wie sieht Mileis erste Bilanz tatsächlich aus? Der 54-Jährige ist am 10. Dezember 2024 genau ein Jahr im Amt. Dieser Tage gab er dem britischen Wirtschaftsmagazin „The Economist“ ein Interview. Man kann das episch lange Gespräch auf einen Satz zusammenfassen, den das Blatt über ein Bild von Argentiniens Staatschef auf die Titelseite hob: „Meine Verachtung für den Staat ist grenzenlos.“

Javier Milei bei einer Pressekonferenz: Kulturkampf und Kettensäge.
Javier Milei bei einer Pressekonferenz: Kulturkampf und Kettensäge. © AFP | Juan Mabromata

Milei setzt die Kettensäge an – vor allem am Sozialstaat

Mit nahezu messianischem Eifer verfolgt der ultraliberale Rechtspopulist seit einem Jahr dieses Motto in seiner Politik. Mit der symbolischen Kettensäge, die er im Wahlkampf schwang, kürzt er den Staatsapparat kurz und klein. Er lässt – zur Freude der einen und zum Leid der anderen – keinen Stein auf dem anderen. Milei reduziert den Staat nahezu bis aufs Skelett, streicht vor allem Jobs und Subventionen, aber auch Armutshilfen, Staatsausgaben, Gehaltserhöhungen sowie die staatliche Bürokratie und Restriktionen. Dabei wird bewusst auch der nahezu vorbildliche Sozialstaat Argentiniens von Mileis Kettensäge geschreddert. 

Mit dem radikalliberalen, anti-etatistischen Ansatz bekämpft der Systemsprenger erfolgreich die Hyperinflation in dem südamerikanischen Krisenstaat und zieht die Blicke von Bewunderern und Beobachtern weltweit auf sich. Ökonomen wie der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, gehören ebenso dazu wie Donald Trump

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Der Polit-Newcomer und Wirtschaftswissenschaftler Milei hat jede seiner Ankündigungen aus dem Wahlkampf wahr gemacht und darüber hinaus noch einige nicht versprochene Veränderungen umgesetzt, die an die politischen Grundfesten Argentiniens die Axt anlegen. Er versucht nicht nur, dem traditionell großen Kultursektor das Geld wegzunehmen, sondern auch den staatlichen Bildungssektor einzudampfen. Darüber hinaus will er auch die rechte Militärdiktatur (1976 bis 1983) als den Schutz vor einer drohenden kommunistischen Herrschaft in Argentinien neu interpretieren. 

Rentner bei einem wöchentlichen Protest gegen Staatschef Javier Milei.
Rentner bei einem wöchentlichen Protest gegen Staatschef Javier Milei. © AFP | Marcos Brindicci

Milei: Den Staat gilt es zu zerstören

Aber vom ersten Amtsjahr eines lauten, rüpelhaften und jede Konvention brechenden „Anarchokapitalisten“ bleibt der Versuch in Erinnerung, den Staat so weit wie möglich abzuschaffen. Milei hat die Zahl der Ministerien um rund die Hälfte abgebaut und Hunderttausenden Staatsbediensteten von heute auf morgen gekündigt. Er hat Subventionen für Gas, Nahverkehr und Strom gestrichen, die Armen- und Nahrungshilfen nahezu gestoppt. Es sind solche Schritte, für die er die Bewunderung des deutschen FDP-Chefs bekommt.

Dabei ist Mileis Wirtschaftsmodell zutiefst sozialdarwinistisch: Nur der Stärkere kommt durch, jeder ist seines Glückes Schmied. Der Markt ist alles, der Staat etwas, das es zu zerstören gilt. Sein Programm ist inzwischen parlamentarisch abgesegnet: Im Juli verabschiedete das Parlament mit knapper Mehrheit das „Ley de Bases“, mit dem er den Staatsapparat nahezu nach Belieben ausdünnen und Massenentlassungen anordnen kann.

Im November sank die Jahresinflation auf 193 Prozent. Die Weltbank prognostiziert mittlerweile einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent. Hunderttausende Arbeitsplätze etwa bei der Post oder den Eisenbahnen, aber vor allem den Bundesministerien sind weggebrochen. Die Renten sind seit Jahresbeginn um mehr als ein Drittel geschrumpft. 56 Prozent der 46 Millionen Argentinierinnen und Argentinier sind arm, fast ein Drittel extrem arm. Millionen würden ohne Unterstützung verhungern. Täglich kommen Tausende Bedürftige hinzu, denn Mileis „Ministerium für Humankapital“ sperrte Nahrungsmittelhilfen für Suppenküchen und versuchte so, die vielen Nichtregierungsorganisationen zu entmachten, die über Jahre die Nahrungshilfe organisierten. Natürlich sind sie für den Ultrarechten auch schlicht „Linke“ und somit ideologische Feinde. 

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Umfragen zufolge steht aber immer noch die Hälfte der Bevölkerung hinter Mileis Radikalkurs, da die Menschen vor allem die peronistische Vorgängerregierung für die tiefe Krise des eigentlich so reichen Landes verantwortlich machen. Aber der Präsident wurde auch für das Versprechen gewählt, dass nach einem harten Jahr der Entbehrungen und Leiden das Wachstum und der Wohlstand kämen. Daran wird er sich messen lassen müssen. 

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Neben der Wirtschaft und den Finanzen widmet sich Milei hingebungsvoll einem „Kulturkampf gegen Andersdenkende, Feministinnen, die LGBTQ+-Community sowie gegen Liberale und Progressive“, schreibt Svenja Blanke, Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Buenos Aires. Trumps Sieg in den USA bestätige Milei in seiner Art und Weise, Politik zu machen, die auf Radikalisierung und Konfrontation beruhe und über soziale Netzwerke kanalisiert werde. „Diese Politik stellt sich lautstark gegen das ‚Establishment‘ oder ‚die Kaste‘, mobilisiert Emotionen und entfacht Gewalt“, betont Blanke.

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In diesen Zusammenhang passt auch sein Bestreben, die Militärdiktatur zu verharmlosen. Milei zweifelt die Zahl der nahezu 30.000 Todesopfer während der Gewaltherrschaft an, spricht von einem „Krieg“ und stellt die linke Guerilla als Täter mit den staatlichen Folterern und Mördern auf eine Stufe. Er streicht Instituten, die sich der Aufarbeitung und dem Gedenken widmen, die Mittel. Abgeordnete seiner Partei „La Libertad Avanza“ besuchen demonstrativ verurteilte Militärs.