Hamburg. Die breite Mehrheit wünscht sich, deutlich früher als mit 67 aufzuhören – wegen zunehmender Belastungen. Aber wer kann das überhaupt?
Viele Arbeitnehmer in Hamburg haben das in ihrem Umfeld schon erlebt: Gut bezahlte Führungskräfte nehmen mit 58 oder 60 ein lukratives Ausstiegsangebot des Unternehmens an und müssen sich finanziell nicht einschränken. Auf der anderen Seite hört man aus der Wirtschaft ebenso wie von Politikern immer wieder die Forderung, die Menschen müssten künftig noch länger als bis 67 arbeiten.
Früher in Rente gehen: Was bedeutet das genau?
Gerade hat die Diskussion um das finanzierbare Renteneintrittsalter durch den Vorschlag der „Wirtschaftsweisen“ Veronika Grimm, die Regelaltersgrenze an die steigende Lebenserwartung zu koppeln, neue Nahrung erhalten. Von Kritikern einer Anhebung des Rentenalters wird dabei gern der Dachdecker ins Gespräch gebracht, der seinem Beruf wohl kaum noch mit 69 oder 70 Jahren nachgehen könne.
Doch tatsächlich wünscht sich eine breite Mehrheit der Arbeitnehmer, wegen der zunehmenden Belastungen sogar deutlich früher als mit 67 aufzuhören – und das betrifft durchaus auch Menschen, die nicht körperlich hart beansprucht werden. So ergibt sich aus der Studie „lidA - leben in der Arbeit“ der Bergischen Universität Wuppertal, dass nur gerade einmal 30 Prozent der Beschäftigten in Deutschland, die heute 57 Jahre alt sind, gerne bis 65 oder länger arbeiten wollen. Nur neun Prozent der Befragten wollen bis zur Regelaltersgrenze von 67 durchhalten.
Bis 67 oder länger arbeiten – wer kann das eigentlich?
Dabei möchten Personen aus IT-Berufen und aus der Verwaltung am liebsten nur bis 62 bleiben, weniger lang als Altenpflegerinnen und Altenpfleger (63). Und von allen, die ihren Beruf maximal bis 64 ausüben möchten, geben viele zur Begründung an, die Arbeit sei zu anstrengend (45 Prozent) oder sie hätten gesundheitliche Probleme (41 Prozent).
„Die Rufe nach einer weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters gehen an der Lebenswirklichkeit vieler Beschäftigter vorbei“, sagt Tanja Chawla, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Hamburg. „Gut ein Viertel der Beschäftigten zweifelt daran, den aktuellen Job überhaupt bis zum Rentenalter durchhalten zu können. Das ist vor allem auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen.“
Eine Befragung in Hamburg zum DGB-Index „Gute Arbeit“ habe gezeigt, dass 48 Prozent der Beschäftigten die Bedingungen in ihrem Job im unteren Mittelfeld einordnen oder gar als „schlechte Arbeit“ empfinden. Insbesondere beim Thema Arbeitsintensität schneide Hamburg schlecht ab.
Als Indiz dafür, dass es Personen mit Bürotätigkeiten ebenso schwer fallen kann wie den viel zitierten Dachdeckern, ihren Beruf noch mit 65 oder 66 Jahren auszuüben, kann auch eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK) mit Sitz in Hamburg in Kooperation mit dem Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung und dem „Personalmagazin“ dienen. „Immer mehr Aufgaben, schneller werdende Prozesse, mobiles Arbeiten ohne Bindung an Ort und Zeit – die Anforderungen an die Beschäftigten in der digitalen Arbeitswelt werden immer komplexer“, heißt es von der TK zu den Resultaten.
Berufsunfähig werden die meisten Menschen aus psychischen Gründen
Demnach gäben 38,5 Prozent der befragten Geschäftsführer, Gesundheits- und Personalverantwortlichen in den Betrieben an, psychische Belastungen am Arbeitsplatz wie Burn-out, Überforderung und Depressionen hätten bereits jetzt eine eher große oder große Bedeutung in ihren Unternehmen – mit stark steigender Tendenz. „Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz haben die körperlichen Belastungen in ihrer Dringlichkeit in vielen Branchen überholt“, sagt Karen Walkenhorst, Personalvorständin der TK.
Tatsächlich sind psychische Beschwerden schon die zweithäufigste Krankschreibungsursache. Im vorigen Jahr betrug ihr Anteil am Gesamtkrankenstand rund 17,5 Prozent. Damit rangierten sie noch vor den Krankheiten des Muskel-Skelettsystems (13,7 Prozent) und nur hinter Erkrankungen des Atmungssystems wie Grippe und Erkältung (25,3 Prozent).
Außerdem sind psychische Erkrankungen mit großem Abstand der häufigste Grund, warum Menschen berufsunfähig werden. Nach Erkenntnissen des Versicherungs-Analysehauses Morgen & Morgen leiden 34,5 Prozent von ihnen unter Depressionen, Burn-out oder anderen psychischen Problemen. Vor dem Jahr 2010 machten diese Fälle lediglich rund 20 Prozent aus.
Arbeitnehmer empfinden die zunehmende Digitalisierung als eher belastend
Immer wieder wird die fortschreitende Digitalisierung als Belastungsfaktor genannt. „Digitale Arbeitsmittel werden nur selten so eingesetzt, dass sie die Arbeitsbelastung reduzieren“, stellt der „DGB-Index Gute Arbeit“ dazu fest: „Nur knapp zehn Prozent der digitalisiert Arbeitenden nehmen eine Entlastung wahr. Dagegen sehen sich 40 Prozent durch die Digitalisierung stärker belastet.“
Trotz eines als zunehmend beschwerlich empfundenen Arbeitsumfelds sind die Deutschen zuletzt zwei Jahre später in den Ruhestand gegangen – im Schnitt mit 64,1 Jahren – als noch 1997. Hamburger halten noch ein bisschen länger durch, im Mittel bis zum Alter von 64,4 Jahren.
Doch aus der Sicht von Philipp Murmann, Präsident des Unternehmensverbands UVNord, ist das nicht lange genug. „Um die Rentenversicherung auch zukünftig finanzieren zu können, werden wir nicht umhin kommen, als eine Stellschraube auch das Renteneintrittsalter anzuheben“, auch mit Blick auf die längere Lebenserwartung, sagt er. „Auch wenn aktuell bei vielen Beschäftigten der Wunsch nach einem früheren Ausscheiden besteht, kann dies nur durch zusätzliche private Vorsorge abgebildet werden.“
UVNord fordert Abschaffung von „Anreizen für Frühverrentung“
Murmann argumentiert aber nicht nur mit der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch wegen des Fachkräftemangels müssten „Anreize für Frühverrentungen“ wie die abschlagsfreie Rente mit 63 abgeschafft werden, fordert er, von Ausnahmen für „körperlich hart Arbeitende“ abgesehen. Denn in der Regel müssen sonst dauerhafte Abschläge von 0,3 Prozent für jeden Monat vorzeitigen Rentenbeginns hingenommen werden.
Jedenfalls versuchten die Unternehmen mittlerweile alles, „um Know-how und Erfahrung im Betrieb zu halten“, sagt Murmann. So würden in der „Arbeitsschutzpartnerschaft“ in Hamburg, die europaweit Anerkennung finde, auch Wege zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit im Alter erarbeitet. Daneben finde man individuell in den Firmen viele Möglichkeiten für eine längere Beschäftigung, „bis hin zum Umbau der Arbeitsplätze für Ältere.“
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Statt eine frühere Verrentung zu ermöglichen, muss es nach Auffassung des UVNord-Präsidenten darum gehen, „Anreize zu setzen für die, die auch über das reguläre Renteneintrittsalter hinaus arbeiten möchten und können.“ Eine Möglichkeit dafür wäre „mehr Netto vom Brutto“.
Hamburgs DGB-Chefin: Wer länger arbeitet, stirbt früher
Hamburgs DGB-Chefin Tanja Chawla hat einen ganz anderen Blickwinkel auf diese Dinge. In den vergangenen Jahren habe die Zahl der erwerbstätigen Rentnerinnen und Rentner schon enorm zugenommen. Aber: „Das hat oft wenig mit Lust zum Weiterarbeiten zu tun, sondern damit, dass die Rente nicht reicht.“
Im internationalen Vergleich habe Deutschland bereits ein sehr hohes Renteneintrittsalter, so die Gewerkschafterin. „Würde es weiter erhöht, käme das einer Rentenkürzung gleich, die insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen benachteiligen würde.“
Denn statistisch gesehen stürben Menschen mit geringeren Einkommen deutlich früher als Gutverdienende. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe betrage in Deutschland bei Männern 8,6 Jahre und bei Frauen 4,4 Jahre. „Wir hätten es also auch mit einer massiven Umverteilung in den Rentenkassen von unten nach oben zu tun“, sagt Chawla.
Darüber hinaus hätten Wissenschaftler nachgewiesen, „dass ein verzögertes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben das Risiko, im Alter zwischen 60 und 69 Jahren zu sterben, um 4,2 Prozentpunkte pro zusätzlichem Arbeitsjahr erhöht.“