Hamburg. Firma Camm Solutions mit Managementsitz in Hamburg arbeitet mit Tchibo zusammen und will die Verpackungsindustrie verändern

Nanda Bergstein erzählt es ganz beiläufig, aber für die meisten Menschen dürfte das eine erstaunliche – und erschreckende – Tatsache sein: „Wir nehmen durch Lebensmittel und Getränke im Schnitt jede Woche etwa die Menge einer Kreditkarte an Mikroplastik zu uns.“

Bergstein ist Mitglied der Geschäftsleitung des jungen Unternehmens Camm Solutions, das dazu beitragen will, dieses Problem zu beseitigen: „Uns geht es darum, konventionelles Plastik in der Breite zu ersetzen.“

Dazu hat die Firma einen neuartigen Kunststoff namens „Camm“ entwickelt, der kompostierbar ist und dann je nach Rezeptur innerhalb von Wochen bis Monaten in seine ursprünglichen Bausteine Sauerstoff, Kohlenstoff und Biomasse zerfällt, ohne weitere Rückstände zu hinterlassen.

Junge Firma will von Hamburg aus nachhaltigen Kunststoff vermarkten

Einsetzbar ist das Material als Folie, als Hartkunststoff – etwa für Pflanzbehälter, die sich in der Erde auflösen – und auch als Beschichtung für Papierverpackungen. Diese können ins Papier-Recycling gegeben werden, weil sich die Beschichtung bei Zugabe von Wasser vollständig zersetzt und die Papierfasern für die Herstellung neuen Papiers nutzbar sind.

Bereits jetzt werden Wäschesäcke für Krankenhäuser aus dem biologisch abbaubaren Material hergestellt. „Als nächste Anwendungen haben wir Luftpolsterfolien und Hartkunststoffteile für Feuerwerkskörper im Blick“, sagt Bergstein.

Tchibo ist ein „wichtiger Partner“ von Camm Solutions – andere werden folgen

Gegründet wurde Camm Solutions im Jahr 2019 von dem auch durch Smoothie-Pulver (Vejo) bekannten Unternehmer Christoph Bertsch aus Überlingen am Bodensee, wo sich bisher auch noch der juristische Unternehmenssitz befindet. „Wir haben uns aber entschieden, den Managementstandort in Hamburg aufzubauen“, so Bergstein.

Das lag schon deshalb nahe, weil der Tchibo-Konzern ein „wichtiger Partner“ sei – und er dürfte künftig wohl nicht der einzige große Kunde in Hamburg sein. Angestrebt werden weitere Partnerschaften mit Unternehmen aus dem Online- und dem Lebensmittelhandel.

Aktuell hat Camm Solutions gut 40 Beschäftigte, davon etwa zehn in Zentralfunktionen. In Hamburg hat sich das Team in der Factory Hammerbrooklyn am Stadtdeich angesiedelt. Der Ausgangsstoff des neuartigen Kunststoffs wird in kleinen Mengen bereits im spanischen Valencia produziert, wo ebenfalls schon erste Produkte auf dem Markt sind.

Mehr als 14 Jahre, bis Juni 2022, hat Nanda Bergstein selbst für Tchibo gearbeitet, wo sie für die Umsetzung unternehmerischen Handelns verantwortlich war. „Ich hatte in dieser Zeit viele Plastik-Alternativen auf dem Tisch, aber sie haben mich entweder im Hinblick auf die Nachhaltigkeit nicht überzeugt, oder sie waren nicht kommerzialisierbar“, sagt die Managerin.

Schon 2024 sollen bis zu 8000 Tonnen des Grundstoffs produziert werden

Letzteren Mangel soll Camm – das Wort ist zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben von Mitgründern, wobei das „C“ für Christoph Bertsch steht – nicht haben: Die Fertigungskapazität für das Granulat, das dann vor Ort zu dem gewünschten Produkt weiterverarbeitet werden kann, wird nach Angaben der Firma von 1500 Tonnen in diesem Jahr auf 6000 bis 8000 Tonnen im nächsten Jahr steigen, 2025 soll es schon in die Richtung von 30.000 Tonnen gehen. Zudem hat man weitere Standorte für die Granulatherstellung im Blick. „Wir haben das Material jedenfalls industriell im Griff“, sagt Bergstein.

Mit derartigen Mengen ist Camm Solutions dem Hamburger Start-up Traceless, das eine auf Pflanzen basierte Alternative zu Kunststoff entwickelt, bisher weit voraus: Traceless betreibt vorerst nur eine Pilotanlage in Buchholz.

Seit Dezember testet der Textilhändler C&A in seiner Filiale in Altona das Traceless-Material als Ersatz für herkömmliche Kunststoffhaken, an denen Socken hängen. Traceless plant den Aufbau einer industriellen Produktion und will bis 2030 weltweit schon eine Million Tonnen Granulat herstellen.

Künftig soll das Rohmaterial zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammen

Bei Camm Solutions will man im zweiten Halbjahr auch das Problem der Verbundstoffe, die bisher kaum recycelbar sind, angehen. Schalen aus Pappe mit einer Camm-Beschichtung sollen dann für Frischetheken und Salatbars zur Verfügung stehen. Bislang können solche Verbundmaterialien, wie zum Beispiel Milch- oder Saftbehälter aus mehreren Schichten, nur schwer recycelt werden. Mit dem vollständig abbaubaren Camm-Material entfällt diese Schwierigkeit.

Nach eigener Einschätzung des Teams ist der neuartige Kunststoff zwar nachhaltig in seinen Eigenschaften, allerdings muss der Rohstoff noch vollständig erneuerbar werden. Aktuell ist er dies etwa zur Hälfte. „Aktuell bauen wir grüne Lieferketten auf, um in spätestens drei Jahren zu 100 Prozent erneuerbar zu sein“, sagt Bergstein. Dem Unternehmen zufolge lautet das Ziel, alle konventionellen Eingangsstoffe durch nachwachsende Ressourcen, etwa in Form von landwirtschaftlichen Abfällen wie Zuckerrohr, zu ersetzen.

Der nachhaltige Kunststoff soll nicht viel mehr kosten als konventionelles Plastik

Wie bei allen nachhaltigen Produkten stellt sich auch bei Camm Solutions die Frage nach den Kosten. Gerade im Verpackungsbereich gilt: „Wir streben an, mit konventionellen Angeboten vergleichbar zu sein, und deswegen investieren wir stark in den Ausbau von Produktionskapazitäten und Verarbeitungsprozessen“, so Bergstein. „Nachhaltiges Material darf aber auch seinen Preis haben.“

Zweifellos ist das Wachstumspotenzial aber groß, denn das Müllproblem hat immense Ausmaße: Deutschland exportiert jährlich rund 700.000 Tonnen Plastikmüll. Und jedes Jahr werden weltweit rund 400 Millionen Tonnen Plastik produziert, von denen etwa 320 Millionen Tonnen in der Umwelt landen, wie Bergstein sagt: „Das zeigt, welchen Weg wir noch vor uns haben.“